19.11.2013 – Kategorie: Hardware & IT

Wissensmanagement in der Produktentwicklung

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Von Prof. Dr.-Ing. Martin Müller und Igor Sokrut

Entwickler haben es schwer: vielfältige Anforderungen, die sich gegenseitig beeinflussen, führen zu komplexen Entscheidungen. Ein Produkt definiert sich über Gestaltmerkmale und Produkteigenschaften, aus denen das Produktverhalten resultiert. Gestaltmerkmale lassen sich im CAD-System über Parameter festgelegen. Diese Parameter haben wesentlichen Einfluss auf die Produkteigenschaften wie Steifigkeit und Festigkeit.
Selbst wenn nur ein Wert zur Debatte steht, etwa die Sickentiefe oder die Rippenhöhe eines Spritzgussteils, kann eine Änderung eine komplexe Entscheidung sein. Es gilt, die aus dem Wert resultierenden Produkteigenschaften aus Sicht unterschiedlicher Anforderungen zu überprüfen und zu bewerten. Wenig erfahrene Konstrukteure müssen sich oft für die Entscheidung fehlende Informationen beschaffen. Schätzungen zufolge verbringt der durchschnittliche Entwickler ein Viertel seiner Arbeitszeit auf der Suche nach Informationen.
Es gibt Eigenschaften, deren Beziehungen zur Gestalt beschreibbar sind, und Eigenschaften, bei denen man zwar weiß, dass sie einen Einfluss haben, diesen aber nicht über mathematische, logische oder andere Beziehungen beschreiben kann. Anforderungen, die aus Eigenschaften mit unbekannten Beziehungen resultieren, müssen fast immer durch Simulationen geprüft werden.
Mit dieser Herausforderung beschäftigt sich eine Arbeitsgruppe am Institut für Fahrzeugbau Wolfsburg (IFBW) der Hochschule für angewandte Wissenschaften Ostfalia. Der vorliegende Artikel behandelt einen Ansatz und ein Beispiel auf Basis des CAx-Systems Catia V5 und des CAE-Systems Abaqus. 

Problem Spezialistentum

Da Bauteil-Konstruktion und -Berechnung häufig voneinander getrennt sind und auch die eingesetzten Werkzeuge (CAD- und CAE-Software) nicht integriert arbeiten, müssen Ergebnisse häufig über neutrale Datenformate und Protokolle ausgetauscht werden. Das bedeutet, dass der Berechnungsingenieur nur begrenzt in der Lage ist, die Gestalt des Bauteils zu ändern. Oft weiß er auch nicht, ob die Änderung zulässig wäre. Er liefert in der Regel nur das Simulationsergebnis und Änderungsempfehlungen an den Konstrukteur. Der Konstrukteur kann die Wirkungen der folgenden Änderungen jedoch nicht selbst analysieren.
Daraus folgt: „Geometrische Gestaltung und strukturmechanische Auslegung eines Bauteils sollte eine Person erledigen.“ Dabei können den Konstrukteur intelligente CAD-Modelle mit CAD-integrierten Berechnungsmodellen unterstützen. 

Know-how im CAD-Modell

Bestehende Lösungen des „Knowledge Based Engineering“ (KBE) haben einen entscheidenden Nachteil: Die Software arbeitet oft rein automatisch. Makros bestimmen die Parameter über mathematische oder logische Beziehungen und weisen diese als feste Werte zu. Der Konstrukteur hat nur einen eingeschränkten Einfluss auf den Parameter. Die programmierte Wertzuweisung nimmt dem Konstrukteur die Entscheidung ab. Das führt zu mangelnder Transparenz und zum Akzeptanzproblem. Denn der Konstrukteur verantwortet auch die automatischen Entscheidungen und muss diese verstehen, nachvollziehen und vertreten können. Das IFBW arbeitet darum an einer Lösung, die sowohl eine gute Übersicht als auch eine variable, aber gleichzeitig wissensunterstützte Parameterzuweisung ermöglichen soll (Bild 1). Der Ansatz teilt und diskretisiert den Wertebereich eines Parameters und bildet damit Restriktionen aus verschiedenen Sichtweisen ab. Geplant ist die Verknüpfung der Lösung mit dem CAD-Modell, um so Grenzwerte auf dem Parameter ereignisorientiert abzuprüfen. Auf einen Blick wäre klar, ob ein Kompromiss zu suchen ist oder ob alle Anforderungen erfüllt sind. 

Mit Automatismen zum CAD-Modell

Zu den automatisierten Lösungen gehören Makro-Quellcodes, Templates und Kopiervorlagen (PowerCopies in CATIA V5). Auch so genannte Reactions in CATIA V5 zählen dazu: Ein bestimmtes Ereignis löst die „Reaktion“ aus, die ein Makro-Quellcode abarbeitet. Zudem helfen parametrierbare CAD-Modelle, die weitreichende assoziative Verknüpfungen enthalten. Ziel sollte sein, den Konstrukteur von Routinetätigkeiten zu entlasten und komplexes CAD-Anwenderwissen im System abzubilden. Mittels intelligenter CAD-Modelle und wissensbasierter Kopiervorlagen soll er seine Ideen schnell umsetzen und diese effizient prüfen können. 

Simulieren im CAD

Der Vorteil CAD-integrierter Berechnungen ist die direkte Verknüpfung von Gestalt- und Analysemodell (Bild 2). Das bedeutet, dass sich bei Gestaltänderungen Teile des Berechnungsmodells (wie FE-Netz, Randbedingungen und Lasten) automatisch anpassen. Dazu baut das Berechnungsmodell auf der Geometrie auf. Das System prägt Lasten und Randbedingungen intern auf die Netz-Knoten auf. Berechnungsspezialisten ist die Arbeit mit Geometrien zunächst ungewohnt – jedoch ermöglicht dies, durch parametrisierte Geometrie auch das Berechnungsmodell indirekt zu parametrisieren. Bauteilvarianten lassen sich so mit weniger Aufwand untersuchen. Optimierungsschleifen und Funktionen wie Design of Experiments (DoE) vervollständigen den Prozess, so dass sich Parameter automatisch optimieren lassen.
Die Analyse im CAD-System Catia V5 ist durch Abaqus for Catia (AFC) deutlich erweitert. In Bild 3 sind die Möglichkeiten in Kombination mit unterschiedlichen Produkten und dem dazugehörigen Assoziativitätsgrad dargestellt. Der Assoziativitätsgrad bewertet den Umfang an verknüpfbaren FEM-Funktionalitäten mit Geometrien sowie die Update-Stabilität dieser Verknüpfungen. 

Beispiel: Rippen gestalten

Um bei der Gestaltung von Verrippungen bei Kunststoffteilen zu unterstützen, wurde ein Tool für Catia V5 entwickelt. Die Zielsetzung war, den Konstrukteur bei seinen Entscheidungen zu unterstützen, ohne ihm die Beurteilungskompetenz abzunehmen. Im Bild 4 ist der Vergleich zwischen der herkömmlichen Konstruktion und der neu entwickelten Methode der Rippengestaltung dargestellt. Hauptaugenmerk liegt auf einer hohen Update-Stabilität des Modells. Um vollständig die Verwendung von Begrenzungsflächen (Boundary Representation – B-Rep) auszuschließen, musste auf den Einsatz typischer Funktionen wie Verrundungen und Auszugsschrägen im Part Design verzichtet werden. Das Problem von B-Rep-Elementen ist, dass eine Neupositionierung der Rippe zum Verlust der Referenz und damit zum Fehler führt.
Der untere Teil des Bildes zeigt, dass sich eine Rippe mit der neuen Methode ohne Updatefehler neu positionieren lässt. Zudem wird deutlich, dass auch die Referenzfläche ersetzt werden kann. Auf diese Weise lassen sich beispielsweise Strakflächen austauschen, was im Entwicklungsprozess häufig vorkommt. Darüber hinaus wurde die Rippengestaltung so implementiert, dass die Ausrichtung der Rippe der Hauptentformungsrichtung folgt und die Entformungsschrägen berücksichtigt werden.
Eine Herausforderung bei der Gestaltung stellt die Anbindung der Rippen dar (Bild 5). Fertigungsgerecht ist ein Verhältnis von 0,6 bis 0,8 zwischen der Rippenstärke und der Stärke der zu versteifenden Fläche. Im Modell sind entsprechende Hinweise zur Information hinterlegt, die ereignisorientiert angezeigt werden. Entscheidend ist jedoch die Kontrolle über die Einhaltung des vorgegebenen Wanddickenverhältnisses. Bei gleicher Rippenstärke kann die überdeckte Fläche im Rippengrund sehr stark schwanken, was zu lokalen Massenanhäufungen führt. Die Überdeckung hängt von verschiedenen Faktoren ab, etwa Rippenhöhe, Krümmung der zu versteifenden Fläche, Entformungsrichtung und -schräge.
Das Tool löst beim Update einer Rippe ein Makro aus, das an mehreren Stellen entlang des Rippenverlaufs die überdeckende Fläche misst. Wird der vorgegebene Wert nicht eingehalten, passt das Makro die Rippenstärke an und führt die Messung erneut durch. Dieser iterative Prozess setzt sich solange fort, bis die Rippenstärke an allen Stellen der Fertigung gerecht wird.
Zudem kann das Tool automatisiert Rippen erzeugen und entfernen. In einer Skizze gibt der Konstrukteur lediglich Rippenverläufe vor (Bild 6). Verlässt er die Skizze, prüft das Tool, ob neue Rippen hinzugekommen sind oder bestehende entfernt wurden. Das Tool prüft auch, ob sich Rippen schneiden oder ob sie einen zu spitzen oder zu stumpfen Schnittwinkel aufweisen. In diesem Fall könnten Massenanhäufungen auftreten. Erkennt das Tool einen Schnitt, gibt es dem Anwender den Winkel über eine Hinweismeldung an. Die Meldung enthält auch, ab wann der Schnittwinkel kritisch ist. Über eine Option kann eine Rippenkreuzung erzeugt oder bei einem zu spitzen Winkel ein Dom eingefügt werden. Die Stärke des Doms wird ebenfalls unter Beachtung fertigungstechnischer Regeln an die Kontur angepasst.
Eingefügte Rippen, Dome und Rippenkreuzungen bleiben voll parametrisch-assoziativ aufgebaut. Sie lassen sich also im Nachhinein neu positionieren sowie in der Höhe und Breite anpassen. Die Hauptentformungsrichtung bleibt für alle Rippen und Dome gleich.
Wie sich das Tool im Entwicklungsprozess einsetzen lässt, zeigt Bild 7. Nicht nur die Gestalt der Rippen wurde nach fertigungstechnischen Gesichtspunkten optimiert, auch die gesamte Topologie hat sich verändert.
In einem weiteren Entwicklungsschritt soll das Tool automatisch Rippen bei der Optimierung einfügen können. 

Fazit

Die Kombination von intelligenten CAD-Modellen und CAD-integrierter Berechnung bietet im Auslegungsprozess von Bauteilen ein hohes Potenzial. Die komplexe Parametrisierung ganzer Modelle beziehungsweise von Gestaltmerkmalen macht den Einsatz verknüpfter Berechnungsmodelle unumgänglich.
Der vorgestellte Ansatz bietet dem Konstrukteur die Möglichkeit, Gestaltänderungen vorzunehmen und gleichzeitig die Wirkung dieser Änderungen auf die Eigenschaften der Bauteile zu analysieren.
Die Kombination verschiedener CAx-Methoden verkürzt die Entwicklungszeit und verbessert die Bauteilqualität. Bauteilvarianten lassen sich so mit geringem Aufwand analysieren und optimieren.
Denkbar ist eine Erweiterung des Tools um eine Kostenkalkulation von Kunststoffbauteilen. Dies würde die direkten Auswirkungen der Konstruktion auf die Herstellkosten aufzeigen.

Prof. Dr.-Ing. Martin Müller und Dipl.-Ing. (FH) Igor Sokrut von der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften – Institut für Fahrzeugbau in Wolfsburg.


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