› von Josef Hammer
Die Bezeichnung „digital native CNC“ bezieht sich auf die Geburtsstunde der Sinumerik One, da sie virtuell entstanden und gereift ist. Bei der Entwicklung hat Siemens einen Ansatz gewählt, der konsequent sämtliche Aspekte der Digitalisierung unterstützt. Auf dieser Basis wurde erstmals eine neue Sinumerik-Generation digital entwickelt und in einer virtuellen Umgebung getestet, bevor die reale Hardware verfügbar war. Das macht Sinumerik One zu einem echten Zwilling. „Echt“ deshalb, weil sichergestellt ist, dass sich die reale Steuerung genauso verhält wie ihr digitaler Zwilling – was maßgebend ist, weil darauf das Prinzip der „digital native“-Herangehensweise und die daraus resultierenden Mehrwerte basieren: Der Werkzeugmaschinen-Hersteller kann mit dem Engineering in der virtuellen Welt beginnen, seine „digital native-Werkzeugmaschine“ mit der Steuerungstechnik verbinden, testen und optimieren. Wenn die gesamte Mechanik, Elektrotechnik und Software zuerst virtuell entstehen, reduzieren sich Zeit und Kosten, und es minimiert sich grundsätzlich das betriebswirtschaftliche Risiko. Klar ist: Solche tiefgreifenden Fortschritte beim Hersteller schlagen sich immer auch in Verbesserungen beim Werkzeugmaschinenbetreiber nieder.
Werkzeugmaschinen und CNC: Neue Antworten auf nicht ganz neue Fragen
Die Wettbewerbsposition von Werkzeugmaschinenherstellern hängt zunehmend von ihrer Fähigkeit ab, auch bei sehr individuellen Kundenaufträgen schnell zu liefern. Gleichzeitig müssen Risiko und Kosten möglichst gering gehalten werden. Der neue Ansatz ermöglicht einen Digitalisierungsschub, der sämtliche Wertschöpfungsschritte – vom Maschinenkonzept über Engineering und Inbetriebnahme bis zu Maschinenbetrieb und Service – durchdringt. Als zukunftsfähige Plattform für alle Werkzeugmaschinen-Technologien verwendet Sinumerik One ein und dieselbe Philosophie für die virtuelle und die reale Welt.
Jetzt mal ganz konkret
Ein wichtiger Vorteil, der sich mit dem digitalen Zwilling der Werkzeugmaschine ergibt, ist, dass bisher weitgehend sequenziell durchgeführte Schritte beim Engineering nun an vielen Stellen parallel laufen können. Dadurch lässt sich die Entwicklungszeit vom ersten Maschinenkonzept bis hin zur fertigen Maschine deutlich beschleunigen. Da man erst dann, wenn die Ergebnisse aus virtuellem Engineering und virtueller Inbetriebnahme überzeugen, alles auf der realen Maschine umsetzt, reduziert sich das Risiko von Konstruktionsfehlern in Mechanik und Elektrotechnik auf ein Minimum. Selbst die Projektierung der Automatisierung kann bereits vor der Verfügbarkeit der realen Maschine beginnen. Der Wechsel in die reale Welt für die noch verbleibenden, stark reduzierten Restaufgaben an der Maschinen-Hardware erfolgt also später beziehungsweise in einem reiferen Maschinen-Entwicklungsstadium. Damit einher gehen kürzere Standzeiten in der Werkstatt, weniger Kapitalbindung und geringerer Ressourcenaufwand. Wenn man beispielsweise die Maschinenabnahme auf virtueller Basis früher beginnen kann, rücken die bisher weitgehend getrennte Herstellung und Nutzung der Maschine näher zusammen. All das trägt dazu bei, die Zeit zwischen dem Auftrag und dem „ersten Span“ beim Maschinenanwender nachhaltig zu verkürzen.
Mit digital-native-CNC: Vom virtuellen Showroom bis zum Remote-Service
Der Maschinenhersteller kann den digitalen Zwilling bereits während der Entwicklung (aber auch anschließend) nutzen, um in einem virtuellen Showroom Beratungen durchzuführen. Vieles – wenn nicht sogar mehr –, wofür bisher eine Demo an der realen Maschine notwendig war, lässt sich dort zeigen und besprechen. Denn der Blick auf die „digital native-Werkzeugmaschine“ erlaubt eine weitgehende Beurteilung, ob Anforderungen erfüllt werden. Dadurch kann der Betreiber seinen Kaufentscheid frühzeitig absichern. Im Aftersales setzen sich die Vorteile fort: Der Einsatz digitaler Zwillinge bietet dem Maschinen-Hersteller ein hocheffizientes Troubleshooting. So kann er wesentlich kürzere Reaktionszeiten realisieren. Viele Servicefälle, für die bisher ein Vor-Ort-Besuch eines Technikers notwendig war, lassen sich remote nachvollziehen und lösen.
Neue Geschäftsmodelle
Auf Basis digitaler Zwillinge können die Maschinenhersteller auch neue Geschäftsmodelle entwickeln, die Betreiber dabei unterstützen, die Betriebssicherheit des Bearbeitungsprozesses zu steigern. Steht dem Maschinenbetreiber zu einem frühen Zeitpunkt ein digitaler Zwilling der Maschinenanwendung zur Verfügung, kann er die Produktion bereits virtuell planen, testen und seinen „digital native-Bearbeitungsprozess“ optimieren, bevor die Hardware der Maschine überhaupt existiert. Mit nur minimalem Aufwand kann die Produktion dann mit fehler- und kollisionsfreien CNC-Programmen in der Werkstatt starten. Fast die gesamte Arbeitsvorbereitung lässt sich in der risikofreien PC-Umgebung ausführen. Sind sowohl die Umrüstzeiten in der Werkstatt als auch das Risiko von Maschinenschäden beim Einfahren minimiert, erhöht sich die Verfügbarkeit.
Der digitale Zwilling der Sinumerik One, der all dies ermöglicht, ist unter dem Namen „Create MyVirtual Machine“ in vier Ausprägungen verfügbar. Deren Virtualisierungsgrad richtet sich nach dem Bedarf des Werkzeugmaschinenherstellers. Fast per Knopfdruck lässt sich daraus ein „Run MyVirtual Machine“-Digital-Twin erzeugen und damit die Technologie auch den Maschinen-Betreibern anbieten. Auch hier gibt es vier Varianten für unterschiedliche Anwendungsfälle. Bei allem, was Sinumerik One zur Digitalisierung beiträgt, sei hier noch explizit erwähnt, dass auch der Innovationsgrad der realen Steuerung auf höchstem Niveau liegt und angepasst an die gefragte Systemleistung in unterschiedlichen Paketen zur Verfügung steht.

Verbesserungen an der CNC übergeordneter Art
Das Potenzial, das sich durch Sinumerik One ergibt, kann sich sehen lassen: Bis zu 30 Prozent schnellere Markteinführung, bis zu 50 Prozent schnellere Inbetriebnahme und bis zu 25 Prozent höhere Maschinenproduktivität. Wer sich auf die digitale Transformation der Werkzeugmaschine einlässt, wird zudem mit herausragenden Veränderungen und Verbesserungen belohnt, die sich nicht in physikalischen Werten oder in Datenblättern ablesen lassen: Eine gesteigerte Produktivität durch höhere Hardwareleistung und intelligentere Software, kürzere Innovationzyklen durch vereinfachte, parallel ablaufende und risikominimierte Prozesse, eine zunehmende Begeisterung für den Nutzen der Digitalisierung, da sie zusätzliche Wertschöpfungen ermöglicht, sowie neue Denkweisen, die zu neuen Geschäftsmodellen führen können. Der „digital native“-Ansatz und die Anwendung digitaler Zwillinge liefern genügend gute Argumente, um sich vom Wettbewerb abzuheben. RT
Josef Hammer ist Promotion Manager Sales Machine Tool Systems bei Siemens in Erlangen.
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