07.08.2022 – Kategorie: Konstruktion & Engineering
Variantenmanagement: Wie nachhaltige Produktentwicklung gelingt
Nachhaltigkeit beginnt in der Produktentwicklung. Je komplexer das Produkt aus Soft- und Hardware „zusammengesetzt“ ist, desto unübersichtlicher wird es bei der Wiederverwendung vorhandener „Teile“. Was bringt da ein intelligentes Varianten-Management?
Viele Unternehmen suchen nach neuen Wegen, nachhaltiger zu werden. Dabei wird oft übersehen, dass Nachhaltigkeit bereits bei der Produktentwicklung beginnt. Durch intelligentes Variantenmanagement mittels Product Line Engineering (PLE) und der Nutzung intelligenter Software können Unternehmen deutlich effektiver und wirtschaftlicher agieren. Von unzulänglichen Hilfsmitteln wie Excel-Tabellen sollte man sich dagegen schnellstmöglich verabschieden.
Variantenmanagement in der Automobilindustrie
Mittlerweile sehen sich nahezu alle Unternehmen gezwungen, nachhaltiger zu werden. Der Druck der Öffentlichkeit sowie durch den Wettbewerb wird immer größer – und die Nachfrage nach umweltfreundlichen Lösungen ebenfalls. Das führt dazu, dass selbst traditionelle Autohersteller mittlerweile mit Hochdruck an neuen, umweltschonenden Antrieben arbeiten. So erklärte etwa Volkswagen bei der Vorstellung der eigenen Unternehmensstrategie, dass man im Vergleich zu 2018 bis zum Jahr 2030 den CO2-Fußabdruck pro Auto über den gesamten Lebenszyklus um 30 Prozent reduzieren wolle. Spätestens 2050 möchte der Autobauer sogar vollständig klimaneutral sein.
Bemerkenswert ist zudem, dass Volkswagen damit rechnet, dass sich sowohl der Umsatz als auch der Profit zunächst hin zu batterieelektrischen Fahrzeugen verschieben wird – und schließlich in Richtung Software und Dienstleistungen. Der zweitgrößte Autohersteller der Welt sieht seine Zukunft also zumindest teilweise als Software-Unternehmen. Bereits in den kommenden Jahren wird das konzerneigene Software- und Technologieunternehmen Cariad die neue Software-Architektur E3 2.0 entwickeln. „Bis 2025 soll der Anteil selbstentwickelter Software im Fahrzeug von aktuell 10 Prozent auf 60 Prozent steigen“, heißt es seitens der Volkswagen AG.
Moderne Produkte benötigen neue Entwicklungswerkzeuge und -methoden
Einen derartigen Strategiewechsel kann nicht jedes Unternehmen vollziehen. In vielen Fällen wäre dies sicherlich auch nicht ratsam. Gleichzeitig ist es gerade für viele produzierende Unternehmen in Deutschland essenziell, nachhaltiger und effizienter zu werden. Dazu müssen sie sich von historisch gewachsenen und mittlerweile veralteten Systemen und Methoden verabschieden. Das gilt vor allem dann, wenn verschiedene Varianten eines Produkts angeboten werden und die Produkte über einen Software-Anteil verfügen.
Variantenmanagement: Ein Lösungsansatz
Danilo Beuche ist CEO von Pure-Systems, einem Softwareanbieter im Bereich Produktlinienentwicklung (Product Line Engineering – PLE) und Honorarprofessor an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig. Er erklärt: „Komponenten, Bauteile und Software können innerhalb einer Produktlinie häufig wiederverwendet werden. Aber aufgrund veralteter Strukturen und Vorgehensweisen wird nicht in ausreichendem Umfang und meist nicht sehr effizient wiederverwendet.“
Stattdessen würden oft noch Excel-Tabellen genutzt, um die Produkte beziehungsweise Produktvarianten zu managen. „Das ist jedoch aus vielerlei Hinsicht problematisch“, warnt Beuche.
Sein Unternehmen, Pure-Systems, hat eine PLE-Lösung entwickelt, die alle Varianten einer Produktlinie managen kann. Standardintegrationen für mehr als 20 Engineering-Werkzeuge stellen sicher, dass von den Anforderungen über die System-Modelle bis hin zu den Testplänen die jeweiligen Ergebnisse für eine Produktvariante jederzeit automatisiert generierbar sind. Und das nicht nur zum Zeitpunkt der Produktentstehung, sondern über den gesamten Lebenszyklus eines Produktes hinweg. Zudem bietet das Unternehmen passende Dienstleistungen für eine effiziente Einführung der Technologie. Das Ziel ist, Zeit und Ressourcen zu sparen, damit sich die Unternehmen auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren können. Aber was ist PLE überhaupt?
PLE – Produktlinienentwicklung
PLE dient dazu, Engineering-Ansätze zu identifizieren, die sich auf die Entwicklung mehrerer ähnlicher Produkte als eine Produktlinie konzentrieren. Man kann PLE auch als Abkürzung für „Systems and Software Product Line Engineering“ sehen. Der Fokus liegt dann auf der Entwicklung von komplexen und Software-intensiven physischen Gütern wie Autos, Steuerungssystemen oder Automatisierungskomponenten. Der hier etwas theoretisch wirkende Ansatz hat einen ganz praktischen Hintergrund.
Denn vor allem bei Produkten, die einen hohen Software-Anteil haben, und bei denen der Produzent verschiedene Varianten auch über die Software bildet, ist es mittlerweile fast unmöglich, alle Abhängigkeiten und Ausschlusskriterien einzelner Funktionen mittels einer Excel-Tabelle zu managen. Selbst die Mitarbeiter, die es gewohnt sind, die Tabellen zu pflegen, machen in der Regel früher oder später einen Fehler, der weitreichende Konsequenzen haben kann. Zumal der Arbeitsaufwand unnötig hoch ist und die Belastung stetig steigt.
„Zudem macht sich das Unternehmen abhängig von einzelnen Mitarbeitern“, gibt Beuche zu bedenken. „Fallen Mitarbeiter aus oder verlassen das Unternehmen, geht mit ihnen auch das Wissen verloren.“
Abteilungsübergreifend arbeiten, „Schrott“ vermeiden
Hinzu kommt, dass es schwierig ist, basierend auf Excellisten abteilungsübergreifend zu arbeiten. Doch das ist zwingend erforderlich, will man arbeitsteilig neue Produkte und Prozesse entwickeln. „Mit Hilfe von Produktlinien Engineering und intelligenter Software fürs Variantenmanagement können Unternehmen komplette Produktlinien abteilungsübergreifend entwickeln, ohne dass es zu Fehlern kommt“, erläutert PLE-Experte Beuche. Wenn nicht länger jedes Produkt einzeln betrachtet wird, sondern die gesamte Produktlinie, lässt sich zudem die Zahl an wiederverwertbaren Teilen deutlich erhöhen und gleichzeitig unnötiger (teils digitaler) „Schrott“ vermeiden. Die systematische Wiederverwendung von Materialien – einschließlich digitaler Artefakte wie Softwarekomponenten und -systeme – führt letztlich auch zu gleichbleibender Qualität und Konsistenz.
Hard- und Software sowie Dokumente weiternutzen
Insbesondere in stark regulierten Industrien ist auch die systematische Wiederverwendung von Dokumenten für die möglichst kosteneffiziente Bereitstellung von Informationen für Zertifizierungen und geforderte Qualitätsnachweise ein wesentlicher Aspekt eines effizienten Entwicklungsansatzes. Die drastisch reduzierten Aufwände für eine Zertifizierung von Produktvarianten erlauben es, insbesondere die Softwareanteile in Produktvarianten länger zu pflegen, da eine gegebenenfalls notwendige Rezertifizierung deutlich günstiger ist als die Zertifizierung eines völlig neuen Produkts.
„Das ist eine gute Idee im Sinne echter Nachhaltigkeit von Produkten“, kommentiert Beuche. „Leider führt auch heute noch viel zu häufig eine veraltete Software zur Ausmusterung von voll funktionsfähiger Hardware.“ Tausende Tonnen von Elektroschrott sind Jahr für Jahr die Konsequenz dieser verfehlten Produktpolitik.
Ein weiterer Vorteil von Software-basiertem Variantenmanagement ist, dass die Unternehmen deutlich schneller feststellen können, ob sich eine neue Produktvariante tatsächlich herstellen lässt. Das ist nicht zuletzt für mittelständische Unternehmen wichtig, die als Zulieferer entsprechende Aufträge von wichtigen Bestandskunden erhalten.
„Von Software-basiertem PLE-Lösungen können letztlich alle Unternehmen profitieren, die verschiedene Produktvarianten anbieten“, erklärt Beuche, der als Honorarprofessor künftigen Ingenieuren und Entwicklern vermittelt, wie wichtig und effizient die intelligente und nachhaltige Nutzung von Ressourcen ist. „Mit entsprechenden Software-Lösungen können die Produkte nahezu beliebig komplex werden.“ Das liegt auch daran, dass mit Hilfe von Analysen der vorhandenen Daten Vorschläge für sinnvolle weitere Optimierungen möglich sind. So wird die Produktlinie trotz steigender Komplexität mit der Zeit immer effizienter und damit auch nachhaltiger.
Der Autor Tillmann Braun ist freier Fachjournalist in Haiterbach.
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