Röntgensysteme in der Werkstoffprüfung
Ende 1892 gründete Richard Seifert in Hamburg ein Unternehmen für elektrische Licht- und Kraftanlagen. Doch statt, wie ursprünglich geplant, elektrische Kronleuchter und Generatoren zu verkaufen, kam seine große Stunde drei Jahre später, als Wilhelm Conrad Röntgen die später nach ihm benannten „X-Strahlen“ entdeckte. Nur ein paar Monate nach Röntgens Veröffentlichung brachte Richard Seifert 1896 – fast zeitgleich mit einem weiteren deutschen Unternehmen sowie dem amerikanischen Erfinder und Gründer von General Electric Thomas A. Edison – seinen ersten Röntgenapparat auf den Markt. Seither hat das mittlerweile zur GE Sensing & Inspection Technologies GmbH gehörende Ahrensburger Unternehmen immer wieder durch Innovationen im Bereich der zerstörungsfreien Werkstoffprüfung (NDT) neue Maßstäbe gesetzt. Nach über einem Jahrhundert Verwendung von Röntgenfilmen spielt das Unternehmen auch bei der zunehmenden Digitalisierung und dem Trend zu 3D-Untersuchungen mittels Computertomographie technologisch weiter ganz vorne mit.
Da die neuartige X-Strahlung nur in einem Vakuumglaskolben erzeugt werden konnte, bezog der Feinmechaniker und Elektrotechniker Seifert die Glaskolbenröhren vom damals führenden Röhren-Glasbläser. So konnte er die Kernkomponenten, die bis heute jedes industrielle und medizinische Röntgensystem ausmachen – Röhre und Hochspannungserzeuger samt Steuerung – aus einer Hand anbieten. Da man die Gefährlichkeit der Strahlung nicht kannte, kamen die ersten Röntgensysteme noch ohne jegliche Strahlenschutzvorrichtungen daher und muten aus heutiger Sicht fatal primitiv an. Doch die Röntgenbilder, die mit ihnen gemacht wurden, revolutionierten um die Jahrhundertwende die Diagnostik: Ärzte konnten erstmals in ihre Patienten hineinschauen, um etwa Knochenbrüche zu diagnostizieren.
Angesichts der enormen Nachfrage wuchs das Unternehmen rasant und Seifert Röntgenapparate wurden – neben anderen Medizin- und Elektroartikeln wie Heißluftduschen, stationären Wohnungsentstaubungsanlagen und Massagevibratoren – „weit über Hamburg und Deutschland hinaus in alle zivilisierten Länder der Erde“ verkauft: Nach 10 Jahren beschäftigte Seifert bereits 60 Mitarbeiter, zum 25-jährigen Jubiläum 1917 waren es weitere 100 zusätzlich.
Einsatz in der Industrie
Nachdem schon Röntgen Versuche mit Durchstrahlungsprüfungen technischer Objekte gemacht hatte, finden sich erstaunlicherweise drei Jahrzehnte lang praktisch keine Hinweise auf den Einsatz dieser Technologie in der industriellen Durchstrahlungsprüfung. Erst der Sohn des Firmengründers, Dr. Richard Seifert Junior, präsentierte 1927 auf der Werkstoffschau in Berlin erstmals einen mobilen Isovolt-Röntgen-Apparat für die Schweißnahtprüfung, der auf einem modifizierten medizinischen Röntgensystem basierte. Er kam später in der schweißtechnischen Versuchsabteilung beim Eisenbahn-Ausbesserungswerk Wittenberge zum Einsatz und markiert praktisch den Beginn der technischen Durchstrahlungsprüfung.
Die von Seifert entwickelten medizinischen Isolux-Röntgenapparate wurden modifiziert noch bis weit in die Nachkriegszeit sowohl in der Schweißnahtprüfung als auch in Verbindung mit einem Durchleuchtungspult mit Manipulatorsteuerung mittels Fußschalter zur Prüfung von Leichtmetallgussteilen eingesetzt. Seit 1939 wurden Seifert Prüfgeräte für die Serienprüfung im Flugzeugbau genutzt. Im Jahr 1954 begann die Produktion der ersten mobilen ERESCO-Strahlenquellen. Ihre Inspektionsergebnisse werden im Zeitalter der digitalen Feldradiografie zunehmend nicht mehr auf Röntgenfilme, sondern auf digitale Detektoren und Speicherfolien gebannt. Beflügelt durch den Erfolg im industriellen NDT-Bereich gab Seifert 1955 die Medizintechnik auf und konzentrierte sich ganz auf die Produktion im Bereich der zerstörungsfreien Prüfung (non-destructive testing NDT) und Analytik. 1964 verließ das Unternehmen aus Platzgründen Hamburg und zog in ein großes neues Firmengebäude in Ahrensburg, das später noch erweitert wurde.
In den 1970er Jahren stieg Seifert mit der Entwicklung von kundenspezifisch orientierten Röntgenprüfsystemen in den Anlagenbau ein. Als Meilenstein auf diesem Gebiet entwickelte das Unternehmen weltweit die erste vollautomatische Röntgenanlage für die Prüfung von Aluminiumrädern, Lenkgehäusen oder PKW-Motorblöcken und machte erst vor wenigen Monaten erneut mit der ersten Serienanlage für schnelle dreidimensionale Computertomographie-Untersuchungen von Gussteilen erneut auf sich aufmerksam.
Führend in der Röntgendiffraktionstechnik
Auch im Bereich der Röntgenanalytik gehörte Seifert mit zu den ersten Herstellern. Zwar wurde der Bau von Röntgenspektrometern in den 1960er Jahren aufgegeben, doch zählt GE dank seiner Ahrensburger Röntgenanalytik-Sparte bis heute zu den führenden Anbietern im Bereich der Röntgendiffraktionstechnik (XRD). 1972 beispielsweise brachte Seifert in einem Forschungsverbund das erste kommerzielle automatische Röntgendiffraktometer auf den Markt.
Im Jahr 2001 verkaufte die Eigentümerfamilie das Traditionsunternehmen an die belgische Aktiengesellschaft Agfa NDT, einen Weltmarktführer für industrielle Röntgenfilme im Bereich der zerstörungsfreien Werkstoffprüfung. Bereits Anfang 2004 wurde Agfa NDT von der Inspection-Technologies-Sparte des US-Konzerns General Electric übernommen und bildet seither mit seinem Produktportfolio sowie seinem globalen Vertriebs- und Servicenetzwerk eine der tragenden Säulen der GE Sensing & Inspection Technologies GmbH mit Sitz in Hürth. Aktuell sind im Werk in der Ahrensburger Bogenstraße 153 Mitarbeiter beschäftigt.
Autor: Dr. Marc Neuber
Bildquelle: GE
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