22.11.2021 – Kategorie: Konstruktion & Engineering
Modellbasiertes Systems Engineering: Was dahinter steckt
Durch das zunehmende Innovationstempo im modernen Flugzeugbau wachsen auch die Herausforderungen an die Zertifizierung. Deshalb gewinnt das modellbasierte Systems Engineering (MBSE) mehr und mehr an Bedeutung. Es umfasst sowohl die elektrischen als auch mechanischen Bauteile und ermöglicht die Erstellung eines umfassenden digitalen Zwillings des gesamten Flugzeugs.
Modellbasiertes Systems Engineering: Die Entwicklung von Luftfahrzeugen gestaltet sich zunehmend komplexer. Unternehmen wollen nachhaltigere und leistungsfähigere Produkte entwickeln, in die sie immer mehr elektrische und elektronische Systeme sowie Software integrieren müssen.
Von anfang an digital
Das bedeutet einen beträchtlichen Mehraufwand bei den Kabelbaumführungen in Flugzeugen. Auch die Gewichtsreduzierung wird zur Herausforderung, selbst wenn neue Leichtbaustoffe zum Einsatz kommen. Umfang und Komplexitätsgrad in der derzeitigen Flugzeugentwicklung haben zu einer wachsenden Abhängigkeit von Partnern und Lieferanten weltweit geführt. Dies wiederum bedeutet eine stärkere Belastung und ein höheres Risiko bei Systemintegration und Zertifizierung, was einen ständigen Informationsfluss zwischen den verschiedenen Beteiligten erfordert.
Allzu oft liegt das an statischen Dokumenten und E-Mails sowie an einem Silo-Ansatz, der den Erfolg des gesamten Programms beeinträchtigen oder sogar gefährden kann. Integrations- und Montageprobleme auf Fahrzeugebene werden spät erkannt – oft erst während der Fertigung und der Flugtestphasen. Damit man die Entwicklungskosten unter Kontrolle hat, muss man das Flugzeug bereits ab der Konzeptphase ganzheitlich im Blick behalten. Je früher sich das integrierte, dynamische und modellbasierte Verhalten des Luftfahrzeugs digital umsetzen lässt, desto besser ist es.
Modellbasiertes Systems Engineering
Das modellbasierte Systems Engineering (MBSE), ausgehend vom digitalen Zwilling und einem digitalen roten Faden, ermöglicht eine leistungsfähige Produktentwicklung. Bei diesem Ansatz werden die einzelnen Silos aufgelöst, und die Daten fließen in Verhaltensmodelle, mit denen sich verschiedene Aufgabenstellungen lösen lassen, zum Beispiel, wie sich Modelle definieren lassen, was sie darstellen, und wie sie mit benachbarten Systemen oder Disziplinen über gut definierte Schnittstellen interagieren.
Luftfahrtingenieure können sich anhand früherer Vergleichsstudien einen besseren Überblick über die optimalen Architekturen der Gesamtkonstruktion und Systeme verschaffen. Diese basieren auf Erkenntnissen aus dem integrierten Flugzeug und führen zu besseren Auswahlmöglichkeiten, über die sich Programmrisiken deutlich reduzieren lassen.
Für die Modellierung der Flugzeugteilsysteme und deren Komponenten sind multiphysikalische Simulationen notwendig. Die Komponenten und Parameter erscheinen in unterschiedlichen Formen oder Abstraktionsebenen.
Strukturen bleiben wesentlicher Bestandteil des Systems
Der zunehmende Einsatz von integrierten Systemen, Elektronik und Software verändert die Dynamik in der Flugzeugentwicklung und stellt ein zusätzliches Risiko in Bezug auf einen termin- und budgetgerechten Abschluss der Zertifizierung dar. Nachdem die Steuerung eines Flugzeugs immer häufiger über elektronische Systeme erfolgt, müssen die Kabel, welche die Daten übertragen, beim übergeordneten Gesamtsystem berücksichtigt werden. Sie verursachen Gewicht, benötigen Bauraum und durchschneiden oft mechanische Strukturen. Die Konstrukteure müssen deshalb wissen, wo der Kabelbaum verlaufen soll und ob er durch Rahmen, Holme oder andere Strukturen geführt wird. Aber wie beeinflusst die Kopplung von Systemen und Strukturen die Flugdynamik? Das ist eine wichtige Frage, die man lange vor der Fertigung verstehen und klären muss.
Die Modelle (Strukturen, mechanische und elektrische Systeme) müssen parallel zu einer multidisziplinären Optimierung reifen, was auch die zunehmende Bedeutung der Simulation in Flugzeugbau erklärt. Robuste multiphysikalische Simulations- und Prüffunktionen ermöglichen es den Ingenieuren, das physikalische Verhalten aller Elemente des zukünftigen Flugzeugs, zum Beispiel Strukturentwicklung, Strömungs- und Wärmeübergang, Systementwicklung, Wärmeregulierung, Kabinenkomfort, Elektromagnetik, Verifizierung und Zertifizierungsprüfverfahren, zu modellieren, zu verstehen und zu optimieren.
Digitaler MBSE-Ansatz (Modellbasiertes Systems Engineering)
Traditionelle Ansätze schränken die Möglichkeit ein, unterschiedliche Betriebsbedingungen in Betracht zu ziehen. Über den digitalen MBSE-Ansatz kann der Erstausrüster ein breites Spektrum an Betriebsbedingungen durchspielen. Er versetzt den OEM überhaupt erst in die Lage, eine Virtual Integrated Aircraft (VIA)-Strategie zu entwickeln. Das VIA-Konzept der virtuellen Integration besteht aus einem Satz Komponentenmodelle, Daten und Parametern, die sich unterschiedlich darstellen und über den Entwicklungszyklus hinweg weiterentwickeln lassen. Über die VIA-Plattform können die Ingenieure Teilsysteme auswählen und so miteinander kombinieren, dass sie optimal in die jeweilige Anwendung passen.
Im MBSE-Kontext bedeutet das, Produktdefinitionen wie Luftfahrtanforderungen werden im Zuge der Entwicklung optimiert. Man muss nicht am Ende der Fertigung Varianten separat verbessern. Diese Flugeigenschaften laufen dann in einer VIA-Simulation. Damit entfällt das Risiko, dass man Konstruktionsänderungen erst während der Flugtests entdeckt und so zusätzlich tausende Flugteststunden anfallen.
Verifizierung erfordert Kontinuität
Die zunehmende Komplexität des Entwicklungsprozesses macht es erforderlich, dass immer mehr Teams Hand in Hand arbeiten müssen. Dadurch nimmt auch die Bedeutung von nachgelagerten Konstruktionsänderungen zu. Beispielsweise muss bei Leichtbauprozessen Klarheit darüber herrschen, wie viele Verbundschichten für eine Tragflächen-Baugruppe ausreichen, damit sie den Belastungen standhalten kann.
Mit dem MBSE-Ansatz können Entwickler alternative Konstruktionen effizient und sicher untersuchen und simulieren. Da sich der gesamte Konstruktionsprozess aus einem umfassenden digitalen Zwilling heraus definiert, werden jede Konstruktionsänderung und jedes Update mit den Produktdefinitionen im Projekt abgeglichen.
Durch die Simulation lassen sich auch die Zertifizierungskosten senken. Dazu gehören sowohl die Zertifizierung der Statik als auch der Systeme, ebenso Steuerungsstrategie und Software-Verifizierungsszenarien wie Model-in-the-Loop, Hardware-in-the-Loop und Pilot-in-the-Loop. Diese Modelle liegen in derselben Konfiguration vor wie die zu zertifizierende Konstruktion. Deshalb muss der Verifizierungsprozess Methoden unterstützen, die den Vergleich der Datensätze in einer kontrollierten Umgebung beschleunigen.
Der Autor Dale Tutt ist Vice President of Aerospace and Defense Industry bei Siemens Digital Industries Software.
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