01.08.2022 – Kategorie: Konstruktion & Engineering
Model-Based Systems Engineering: Ein Modell mit Zukunft?
IT-Systeme sind nicht mehr nur analog oder nur digital. Sie integrieren mechanische und elektrische Hardware mit Software zu einem Zusammenspiel analoger und digitaler Komponenten. Um diese steigende Komplexität zu bewältigen, bedient man sich der Ansätze des Systems Engineering.
Zu den neuen Ansätzen des Systems Engineering gehört auch das Model-Based Systems Engineering (MBSE). Während viele MBSE-Vorreiter von den Vorteilen ihres Ansatzes schwärmen, verbinden viele andere den Weg fort vom Document-Based (DBSE) hin zu MBSE vor allem mit Mehrkosten. Ein wirtschaftlicher Mehrwert wird demnach als Ausgangspunkt für eine Änderung der Vorgehensweise des Systems Engineering angesehen. Der Beitrag stellt MBSE dem üblichen Vorgehen des DBSE gegenüber und vergleicht die Wirtschaftlichkeit der beiden Ansätze.
Document-Based Systems Engineering (DBSE)
DBSE ist eine gängige Vorgehensweise, in der die Systemspezifikation in Textform in einem Dokument festgehalten wird. Die einzelnen Disziplinen des Systems Engineerings werden oft mit dem V-Model im Hinterkopf durchlaufen. Für jede Disziplin wird ein neues Dokument angelegt, unter anderem für Anforderungs- und Architekturdokumentation sowie Testspezifikation. Entweder eine oder mehrere Personen fertigen ein Dokument an. Ein Autor schreibt ein Dokument von Anfang bis Ende oder stückweise. Wird das Dokument abschnittsweise erstellt, so ergänzen immer neue Informationen das Dokument und spiegeln so das wachsende System wider. Um Informationen nicht zu duplizieren, werden Referenzen gesetzt, die meist statischer Natur sind. Sollte die Zieltextstelle geändert, verschoben oder ganz gelöscht werden, ohne dass auch der Verweis aktualisiert wird, hat die Referenz keinen Wert mehr. Dokumente aktuell zu halten wird so selbst bei kleinen Systemen zu einer zeitintensiven, fehleranfälligen Aufgabe.
Auch mit strukturellem Vorgehen kann es passieren, dass einzelne Informationen an mehreren Orten abgelegt sind, mit dem Ziel, bestimmte Textstellen verständlicher oder ausführlicher zu erläutern. Möchte man das System im Ganzen verstehen, muss man die gesamte Dokumentation lesen. Sucht man, im Umkehrschluss, Informationen über einzelne Komponenten, muss man unterschiedliche Abschnitte in verschiedenen Dokumenten lesen.
Model-Based Systems Engineering (MBSE)
MBSE erstellt statt eines Dokuments ein Systemmodel. MBSE zieht eine visuelle Darstellung für den Aufbau und das Verhalten des Systems heran, um die Komplexität in den Griff zu bekommen. Dabei werden das System und die Umgebung betrachtet. Das Systemmodel orientiert sich an der System Modeling Language (SysML). Diagramme beschreiben die Struktur und das Verhalten des Systems – eine visuelle Systemarchitektur entsteht. In einem MBSE-Werkzeug werden Referenzen erstellt, um die Verhältnisse zwischen den einzelnen Diagrammen zu beschreiben. Diese Referenzen werden automatisch aktualisiert, wenn sich etwas im Model ändert.
SysML bietet die Möglichkeit, Anforderungen zu modellieren, also die Beziehung zwischen Anforderungen und Systemelement darzustellen. Damit lassen sich weitere Referenzen zum Systemmodell hinzufügen. Wie oben bereits erwähnt, hält das Werkzeug die einzelnen Referenzen immer auf dem neuesten Stand. Der Autor muss jedoch auch hier die Referenz initial ansetzen, damit Informationen über Systemelemente leicht auffindbar sind. Eine visuelle Beschreibung des Systems sowie Beziehungen der Systemelemente zueinander durch Diagramme machen erklärenden Text fast überflüssig. Genau das macht diese Vorgehensweise so stark. Ein Systems Engineer muss die Beziehungen der Systemelemente untereinander nicht im Hinterkopf behalten; es entsteht kein explizites Wissen.
Ein Systemmodell zu erzeugen bedeutet nicht, komplett auf Dokumente zu verzichten. Besonders im regulatorischen Umfeld sind diese wichtig. Anforderungs- oder Architekturdokumente lassen sich mit einem MBSE-Werkzeug jedoch per Knopfdruck erzeugen.
Ein Systemmodell zu erstellen bedeutet, Information über den Aufbau, das Verhalten und die Anforderungen zu sammeln sowie die Beziehungen der Elemente korrekt wiederzugeben. Dies bringt einen großen initialen Aufwand mit sich. Dokumente hingegen können schneller erzeugt werden und liefern damit rascher eine dokumentierte Architektur.
Auf lange Sicht ist MBSE wirtschaftlicher
Einen direkten Vergleich der beiden Kostenprofile zeigt die Grafik. Das Investment in der Anfangsphase ist bei MBSE größer als beim dokumentenbasierten Ansatz. In den letzten Zyklen ist es genau umgekehrt. Das höhere Zeitinvestment in den Anfangsphasen muss bei MBSE also Vorteile mit sich bringen, die sich in den letzten Zyklen bemerkbar machen.
Das größere Zeitinvestment des MBSE-Ansatzes am Anfang relativiert sich angesichts der Vorteile, die dieses Investment in späteren Lebensphasen eines Systems mit sich bringt. Durch eine Konvertierung beider Ansätze in einen Nettobarwert (engl. Net Present Value, NPV) lässt sich das Return of Investment (ROI) berechnen. Der ROI-Wert ist sehr abhängig vom Zeitpunkt des Investments und von den späteren Vorteilen.
Da sich die Werte wenig unterscheiden, sollten die Kostenprofile nochmals genauer analysiert werden. Das frühere Zeitinvestment beim MBSE bringt einige Vorteile in den späteren Lebensphasen. Am Anfang jedoch gibt es einige Investmentfaktoren, unter anderem Trainings- und Infrastrukturkosten. Die Vorteile sollten das Investment überwiegen.
Die Vorteile des Model-Based Systems Engineering
→ Fehler früher finden: Aufgrund der kürzeren Feedback-Schleife ist es deutlich günstiger, in der Designphase einen Fehler zu finden und zu beheben als in der Testphase.
→ Konsistenz erhöhen: Ein Systemmodel beinhaltet alle Systeminformationen. Da alle Entwicklungsteams die gleiche Informationsquelle haben, erhöht sich die Konsistenz innerhalb des Projekts.
→ Systemdesign optimieren: Das hierarchische Modellieren gehört zu den Stärken von SysML. Eine Übersicht hilft, das Systemdesign noch in der Designphase anzupassen.
Die Quintessenz von DBSE und MBSE
Eine der größten Hürden für Änderungen ist oftmals der wirtschaftliche Faktor. Schaut man sich den Return of Investment von MBSE und DBSE genauer an, erkennt man, dass der Net Present Value etwa gleich ist. Erst wenn man beide Methoden im Detail betrachtet und die Vor- und Nachteile miteinander vergleicht, sieht man, dass MBSE einige Probleme löst, die durch DBSE erst entstanden sind. Ob MBSE für jedes Projekt oder jedes Produkt empfehlenswert ist, lässt sich durch die Analyse nicht sagen. Sie zeigt lediglich, was MBSE im Vergleich zu DBSE besser macht und welche Vorteile man zu erwarten hat. Als Mehrwert bringt MBSE die Reduktion von Komplexität. Wie hoch der Mehrwert von MBSE ausfällt, hängt demnach von der Projektkomplexität ab.
Ebenfalls erwähnenswert ist die Simulation. Mit MBSE-Werkzeugen ist es möglich, das Verhalten des Systemmodels zu simulieren. Dadurch eröffnet sich eine neue Möglichkeit der Kommunikation zu den Stakeholdern. Das gewünschte Systemverhalten zu demonstrieren, bevor es entwickelt wurde, hilft noch stärker, Ambiguität zu vermeiden. Darüber hinaus kann man den Einfluss von Änderungen noch besser erkennen.
Der Autor Hendrik Dahmke arbeitet als Systems Engineer bei Method Park.
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