29.08.2022 – Kategorie: Konstruktion & Engineering
Model Based Definition: Das sind die Vorteile für den Fertigungsprozess
Der Verzicht auf die Zeichnung ist ein kleiner, aber wichtiger Schritt auf dem Weg zum modellbasierten Unternehmen.
Welche Vorteile Model Based Definition Unternehmen im Entwicklungs- und Fertigungsprozess bietet, erläutern uns Klaus Erdrich und Jürgen Hillemann von BCT Technology zusammen mit Ralf Schumacher von Siemens Digital Industries Software.
Model Based Definition: Was ist das eigentlich?
Was genau verstehen Sie unter Model Based Definition (MBD)?
Klaus Erdrich: Model Based Definition ist die Basis für zeichnungslose Prozesse und digitale Durchgängigkeit. Es geht darum, alle für die Definition und Herstellung eines Produkts benötigten Information am 3D-Modell des Produkts anzubringen und für die weitere Verwendung in Nachfolgeprozessen zur Verfügung zu stellen. Das können Geometrieinformationen, Maße und Toleranzen, aber auch beschreibende Daten und Hinweise sein.
Warum sollten sich Unternehmen mit dem Thema MBD beschäftigen?
Jürgen Hillemann: MBD wird die Art und Weise, wie wir Produkte künftig entwickeln und fertigen, nachhaltig verbessern und unsere Wettbewerbsfähigkeit stärken. Viele Unternehmen haben die Nutzung von PMI (Product Manufacturing Information) aufgrund des hohen Erstellungsaufwands wieder verworfen. Dieser Aufwand reduziert sich dank MBD nun drastisch, weshalb wir allen Unternehmen empfehlen, sich bald mit dieser Technologie auseinanderzusetzen. Denn wie jede neue Technologie braucht auch die Einführung von MBD seine Zeit.
Inwieweit ist MBD die Voraussetzung für die digitale Transformation?
Ralf Schumacher: MBD ist natürlich nur ein Teil des Puzzles der digitalen Transformation, aber ein durchaus relevantes, denn es eliminiert die Sackgasse der technischen Zeichnung. Die meisten Unternehmen haben 3D-Technologien erfolgreich eingeführt, aber sie benötigen weiterhin die 2D-Zeichnung, um das Produkt vollständig zu beschreiben. Oft ist sie auch noch Vertragsgrundlage für die Zusammenarbeit mit Kunden und Lieferanten. Zeichnungen zu erstellen und mit fertigungsrelevanten Informationen anzureichern, ist jedoch zeitaufwändig und fehleranfällig. Mit MBD wird die Zeichnung obsolet, weil alle Informationen am 3D-Modell ‚hängen‘ und für die Folgeprozesse weiterverwendet werden können.
Die Vorteile für die Unternehmen
Welche Vorteile und Nutzeneffekte verspricht MBD den Unternehmen?
Hillemann: Abgesehen davon, dass die Aufwände für die Zeichnungserstellung reduziert werden, sind die Vorteile und Nutzeneffekte umso größer, je länger die Prozesskette ist. MBD ermöglicht nicht nur die durchgängige Nutzung der digitalen Informationen in Werkzeugbau und mechanischer Bearbeitung. Insbesondere bei variantenreichen Produkten wird auch der Angebots- und Beschaffungsprozess (RFQ) deutlich vereinfacht und beschleunigt. Einen nicht auf den ersten Blick erkennbaren Nutzen möchten wir besonders betonen: Mit der MBD-Technologie lässt sich das Wissen der Konstrukteure, zum Beispiel über branchen- oder firmenspezifische Toleranzen, erfassen und an jüngere, weniger erfahrene Kolleginnen und Kollegen weitergeben.
Gibt es Marktanalysten über das Potenzial von MBD?
Erdrich: Es gibt Berechnungen, die von einem Produktivitätsgewinn von 12 Prozent ausgehen, wenn Konstrukteure anstelle von Zeichnungen mit MBD arbeiten. In der weiteren Prozesskette zur Fertigung und Qualitätssicherung sind Studien zufolge Zeiteinsparungen von bis zu 80 Prozent möglich. Seine stärkste Wirkung entfaltet MBD bei der Übergabe von CAD zu CAM und CAQ sowie bei Toleranzanalysen, aber auch im Angebotsprozess.
Welches sind die größten Hürden bei der Implementierung von Model Based Definition?
Schumacher: Die Unternehmen müssen bereit für Veränderungen sein, da MBD Prozesse verändert. Die Installation von technischen Hilfsmitteln wie Bildschirme in Fertigung und Montage ist dabei das kleinere Problem. Am wichtigsten ist es, die Menschen abzuholen und ihnen die Angst vor der Veränderung zu nehmen. Alle Prozessbeteiligten, interne und externe, müssen eingebunden werden – auch die Kunden, die heute noch auf ‚ihre‘ Zeichnung als Vertragsgrundlage pochen.
Lassen sich die PMIs in Fertigung und Qualitätssicherung denn durchgängig nutzen?
Erdrich: Ja, diese Möglichkeit besteht, aber es kommt im Einzelfall auf die eingesetzten Systeme an. Bei einem durchgängigen CAD/CAM-System ist die Übergabe der PMIs naturgemäß einfacher, als wenn unterschiedliche Systeme von verschiedenen Herstellern zum Einsatz kommen. Fertigungspartner können die annotierten 3D-Modelle aber auch in Neutralformaten weiterverarbeiten. Mit dem Technical Data Package (TDP) lassen sich mit MBD angereicherte Produktmodelle in Neutralformaten wie JT verlustfrei an Dritte übergeben.
Kosten senken durch Model Based Definition
Welche zusätzlichen Einsparpotenziale ergeben sich durch das NX-Modul Model Based Definition?
Hillemann: Die Stärke von NX Model Based Definition liegt in der Möglichkeit, die Definition von PMI durch Regelwerke zu automatisieren. Über eigene oder genormte Regelwerke lassen sich beliebige Regeln auf die Bauteile des 3D-Modells anwenden, zum Beispiel auch funktionsbezogene Regeln. Der Konstrukteur wählt einen Passstift, eine Führungssäule oder ein einfaches Durchgangsloch aus und das Regelwerk bringt an der Bohrung automatisch oder halbautomatisch die entsprechende Passung an.
Für welche Konstruktionen sind die Regelwerke besonders hilfreich?
Erdrich: MBD-Regeln lassen sich auf jegliche Konstruktionen anwenden. Sie können beispielsweise auch genutzt werden, um Allgemeintoleranzen schnell und sicher anzubringen. Besonders sinnvoll sind sie da, wo ganz spezielles Tolerierungs-Know-how erforderlich ist. Dieses Wissen ist oft über die Jahre im Unternehmen gewachsen und geht verloren, wenn die ‚alten Hasen‘ in den Ruhestand gehen. Neben den Geschwindigkeits- und Qualitätsvorteilen geht es bei MBD auch darum, dieses Wissen für jüngere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu konservieren.
Warum arbeitet Siemens bei der Implementierung von MBD mit BCT zusammen?
Schumacher: BCT ist ein langjähriger und kompetenter Partner, der viel Erfahrung bei der Standardisierung des Produktentstehungsprozesses, der optimalen Nutzung der NX-Methoden und der Wiederverwendung von Informationen in den Downstream-Prozessen mitbringt. Diese Erfahrungen wollen wir mit unseren vertrieblichen Kapazitäten kombinieren, um Kunden bei der Implementierung von MBD schneller und besser bedienen zu können.
Bild: BCT Technology AG
Zwei Partner, eine Mission
Was genau ist Gegenstand der Partnerschaft zwischen beiden Unternehmen?
Schumacher: BCT wird die Kunden von Siemens Digital Industries Software im Umgang mit NX Model Based Definition beraten, Potenzialanalysen bei ihnen durchführen und sie bei der Implementierung der Software unterstützen. Wir wollen Einführungsprojekte bei unseren Kunden gemeinsam durchführen und planen außerdem gemeinsame Aktivitäten am Markt.
Wie unterstützt BCT seine Kunden bei der Umsetzung von Model Based Definition?
Erdrich: MBD ist eine recht junge Technologie. Unsere Kunden profitieren davon, dass unsere Berater die Erfahrungen bei anderen Unternehmen in die MBD-Projekte einbringen, was den Einführungsprozess beschleunigt. Darüber hinaus haben wir eine Bibliothek an Regelwerken aufgebaut, die wir unseren Kunden anbieten und die seit Ende 2021 über den BCT-Webshop auch international verfügbar ist. Bei Bedarf erstellen unsere erfahrenen Spezialisten für Kunden außerdem spezifische Regelwerke.
Was bieten die Engineering-Automation-Workshops den Kunden?
Hillemann: Die Workshops geben den Kunden einen konzentrierten und damit ressourcenschonenden Einblick in die Technologie. Wir stellen den Grundgedanken von MBD vor, demonstrieren diesen anhand von Praxisbeispielen und gehen anschließend in Interviews auf die firmenspezifischen Belange ein. Auf Basis der geschätzten Potenziale, die sich aus den Gesprächen beim Kunden und unseren Erfahrungen ergeben, entwickeln wir dann eine Roadmap für die Einführung.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Michael Wendenburg.
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