30.07.2013 – Kategorie: Hardware & IT
Medizin: Simulationsumgebung für die Orthopädie
Während computergestützte Simulationsverfahren bereits seit langem im Automobil- und Flugzeugbau verbreitet sind, ist deren Einsatz zur Optimierung biomedizinischer Anwendungen noch wenig gängig. Bisher hängen Verbesserungen der einzelnen Entwicklungsstufen eines medizintechnischen Produkts stark von der Erfahrung, dem Können und dem Geschick des Entwicklers ab.
Um mit Hilfe von Simulationsmethoden den Fortschritt in der Medizintechnik voranzutreiben, entwickelt die Arbeitsgruppe VOL eine Simulationsumgebung für die Orthopädie. Anstelle umfangreicher experimenteller Tests sollen simulierte Tests helfen, die Zeit von der Konzeption bis zur Markteinführung deutlich zu verringern.
Die angestrebte Simulationsplattform soll die virtuelle Entwicklung und Analyse von unterschiedlichen medizintechnischen Anwendungen ermöglichen, etwa von Exoprothesen (beispielsweise ein Prothesenfuß), Endoprothesen (zum Beispiel künstliche Bandscheiben) und chirurgischen Instrumenten (Bild 1). Zudem sind zahnmedizinische Anwendungen wie die Analyse von Beißkräften während des Kauens möglich (Bild 2).
Über eine intuitive grafische Oberfläche lassen sich verschiedene Konstruktionsvarianten (Geometrie, Material) und Belastungssituationen per Mausklick auswählen und virtuell durchspielen. Ziel ist, zusammen mit den Experten anwendungsspezifische Indikatoren für die Bewertung der Funktionsfähigkeit einer Konstruktion zu entwickeln, um physikalische Schwachstellen bereits in der Entwicklungsphase am virtuellen Prototyp entdecken und beheben zu können. Idealerweise ergänzen existierende CAD/CAM-Verfahren die innerhalb von VOL entwickelten Simulationsverfahren, um eine integrierte CAD-SIM-CAM-Entwicklungsumgebung zu bilden.
Ein weiterer Schwerpunkt der Forschungsgruppe liegt in der Darstellung der Simulationsergebnisse. Es gilt, am Bildschirm verschiedene Simulationsszenarien einander gegenüberzustellen und mit den idealen Daten zu vergleichen. Dies ist beispielhaft in Bild 3 dargestellt. Die 3D-Rekonstruktion einer Motion-Capture-Aufnahme überlagert ein synchron aufgezeichnetes Kamerabild der Szene.
Beispielanwendungen
Ein Beispiel für VOL im Einsatz ist die Entwicklung eines Prothesenfußes. Wie bei jedem anderen medizintechnischen Produkt ist die Entwicklung eines Prothesenfußes ein zeitintensiver Prozess. Neue und verbesserte Produkte müssen vor ihrer Zulassung umfangreiche und langwierige Belastungstests bestehen. Das bedeutet, dass ein nicht bestandener Test eine Prothese in der Entwicklung möglicherweise um Monate zurückwirft.
Das VOL zielt auf die Entwicklung virtueller Tests, die dem Entwicklungsingenieur helfen, die Prothese bereits vor der experimentellen Erprobung zu testen. Bild 4 zeigt, wie der Produktentwicklungsprozess umgestaltet werden kann und damit effizienter wird. Die virtuellen Tests werden am Computer mit Modellierungs- und Analyse-Werkzeugen durchgeführt. Ein vom Entwicklungsingenieur erstelltes CAD-Modell lässt sich relativ schnell mit FE-Berechnungen auf grundlegende Konstruktionsmängel prüfen. Mit Hilfe von simulierten Tests können auch komplexere oder extreme Belastungsbedingungen nachgestellt werden, beispielsweise mit Hilfe von Motion-Capture-Systemen aufgezeichnete und in einer Datenbank abgespeicherte natürliche menschliche Bewegungen, die sich unter unterschiedliche experimentellen Bedingungen betrachten lassen. Die Ergebnisse der FE-Simulation dienen dann dazu, Festigkeit, Gewicht, Material und die Kosten der Prothese zu optimieren. Erst dann entsteht auf Basis der Simulationen ein Prototyp der Prothese und wird am Roboter experimentell erprobt.
Workflow und Oberfläche
Ein weiteres wichtiges Ziel des VOL ist die Entwicklung einer intuitiven grafischen Benutzeroberfläche (Graphical User Interface – GUI), der ein XML-basierter Workflow zugrunde liegt. Über das Workflow-System kann der Entwicklungsingenieur die für seine Anwendung erforderlichen Arbeitsschritte festlegen (in Form von benötigter Software und Daten) und zu einem koordinierten Prozessablauf verbinden.
Für jeden Arbeitsschritt definiert ein XML-Dokument die benötigten Software-Komponenten (CAD, FE, Statistik), Eingangsdaten (CAD-/CT-Daten, Motion-Capture-Bewegungsdaten, EMG-Signale, Kräfte und Momente). Der Zusammenhang und die Schnittstellen zwischen den einzelnen Arbeitsschritten beschreibt eine weitere XML-Datei.
Über das GUI kann der Entwickler Parameter festlegen und Eingangsdaten auswählen, die an das Workflow-System weitergeleitet und verarbeitet werden sollen. Die Simulationsergebnisse werden grafisch aufbereitet und dem Entwickler präsentiert. Die GUI soll insbesondere dazu dienen, Feedback zur Konstruktionsverbesserung zu geben.
Die grafische Oberfläche nutzt zur Darstellung Zinc, ein Browser-Plug-in für CMGUI, ein von der University of Auckland entwickeltes 3D-Visualisierungs- und Modellierungstool, insbesondere für FE-Anwendungen (www.cmiss.org). Über Zinc lassen sich Ergebnisse einer Simulation auf einer Webseite mit benutzerspezifischer Oberfläche anzeigen und weiterverarbeiten. jbi
Autoren:
Dr. med. Urs Schneider leitet die Abteilung Biomechatronische Systeme des Fraunhofer-Instituts für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) in Stuttgart.
Ellankavi Ramasamy ist Strukturingenieur in der Abteilung Biomechatronische Systeme des IPA.
Dr. Beate Dorow ist als Mathematikerin in der Abteilung Biomechatronische Systeme des IPA tätig.
Oliver Röhrle, PhD, ist Professor für Kontinuumsbiomechanik und Mechanobiologie am Institut für Mechanik der Universität Stuttgart.
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