07.06.2016 – Kategorie: Hardware & IT
Know-how: Augmented Reality in der Produktion
Beim Positionieren von Anschweißteilen in der Produktion der Lokomotive Vectron ersetzt Siemens gelaserte Aluminium-Schablonen durch Laserprojektionssysteme. Das bringt enorme Vorteile. von Theo Drechsel
Wie beim Auto wird Mann bei der Lokomotive zum Kind. Etwa wenn er einem gerade gefertigten, glänzenden Vectron vor dem Siemens-Werk „München-Allach“ erblickt. Spätestens wenn er auch noch die Gelegenheit bekommt, ins Führerhaus zu steigen, wird sich wohl so mancher an einen seiner Berufswünsche aus Kindheitstagen erinnern – Lokomotivführer.
Auch den, der lieber Astronaut, Feuerwehrmann oder Fußballspieler werden wollte, weiß der rund 19 Meter lange Vectron zu beeindrucken im Interieur mit Überblick und Technik, im Exterieur mit kernigem Lok-Charakter, gepaart mit modernen LED-Schweinwerfern. Die Varianten Elektro und Dieselelektrisch jedenfalls haben europaweit bereits 15 Kunden überzeugt. Zumal der Vectron auch grenzüberschreitenden Betrieb dank Mehrsystemvarianten und Länderpaketen unterstützt.
Beeindruckende Produktionstechnik
Die Produktionsstätte des Vectron auf dem weitläufigen Gelände in Allach ist nicht weniger beeindruckend als die Lok selbst. Ein Gang durch die Hallen zeigt, dass hier viele Technologien zum Einsatz kommen, die man bereits aus der Automobilbranche kennt. Dazu gehören auch die beiden mobilen Laserprojektionssysteme „Werklicht“ von Extend3D, die, befestigt an Vorrichtungen, bei einem Untergestell platziert sind. „Wir hatten bisher Schablonen eingesetzt. Im Zuge eines durchgängigen Optimierungsprozesses mit Blick auf Qualität, Zeit und Kosten haben wir mit Werklicht den nächsten Schritt gemacht“, erklärt Sahap-Tunc Sarpdag aus der Betriebsmittelkonstruktion. „Außerdem stellt der Wegfall des Handlings der Schablonen für uns einen großen Vorteil dar. Die leichte Bedienbarkeit des Systems erlaubt unseren Werkern zudem, problemlos damit zu arbeiten.“
Plandaten mit Realität verknüpfen
Werklicht besteht auf der Hardwareseite aus zwei Kameras sowie einem Industrielaser zur Projektion. Das Herzstück ist allerdings die smarte Software, durch die digitale 3D-Plandaten mit der tatsächlichen Realität verbunden werden. Zunächst werden dafür existierende CAD-Daten aus allen üblichen Datenformaten eingelesen. Mit am Werkstück angebrachten Targets gleicht die Software die gespeicherten Pläne mit dem realen Körper ab und stellt die Referenz her. Dabei können sowohl das Werkstück wie auch der Projektor unterschiedliche Positionen einnehmen – jegliche Bewegungen werden durch die Software in Echtzeit ausgeglichen.
Das Funktionsprinzip von Werklicht erlaubt zum Beispiel, per Laser- oder Videoprojektion Arbeitspunkte oder Bereiche exakt zu markieren oder Hinweise zu Arbeitsschritten direkt auf dem Werkstück anzugeben.
„Die Einrichtung des Systems ist absolut simpel: Im ersten Schritt erfolgt der Import der CAD-Daten des Bauteils in die mitgelieferte Software. Dann werden sogenannte Targets auf dem Bauteil platziert, um sich in das Bauteilkoordinatensystem einmessen zu können“, berichtet Nicolas Heuser, Geschäftsführer von Extend3D.
Siemens hat im Zuge des Auswahlprozesses von Anfang an Lasertechnologie präferiert. Auch deswegen, weil sich im Werk bereits ein statisches Lasersystem bewährt hat, mit dem Kabellängen visualisiert werden. Als die Spezialisten aus Betriebsmittelkonstruktion und Arbeitsvorbereitung auf Werklicht aufmerksam wurden, erfolgte eine Produkt-Demo in Allach. Dabei hinterließ das Laserprojektionssystem einen sehr positiven Eindruck. Als dann auch noch eine extra für die Suche nach dem passenden System angefertigte Diplomarbeit zu dem Ergebnis kam, dass Werklicht das Anforderungsprofil am besten erfülle, fiel die Entscheidung zur Anschaffung zügig.
Lediglich die Software wurde noch optimiert, der Einsatz bei einem so großen Bauteil wie dem Untergestell war bis dato etwas Spezielles. Die implementierten Features sind mittlerweile aber auch in die Standard-Software eingeflossen.
Leichte Handhabung
Die leichte Handhabung bestätigt Bernd Göllnitz aus der Arbeitsvorbereitung im Werk Allach: „Der Werker schaltet zu Schichtbeginn Werklicht ein und positioniert das System dort, wo er anfangen möchte. Er weiß, welches Projekt gerade zu bearbeiten ist. Dann bereitet er die Einzelteile für diesen Bereich vor. Der Werker sieht eine Vertrauensprojektion sowie einen Screenshot vom zu setzenden Anschweißteil und kann loslegen“. Bei der Vertrauensprojektion wird anhand einer Linie die richtige Positionierung abgeglichen. Stimmt sie nicht, wird das Werklicht mit einer Fernbedienung neu ausgerichtet.
Neben der leichten Bedienbarkeit beim Durcharbeiten der Liste der vorbereiteten Projektionen bietet Werklicht den Anwendern diverse weitere Vorteile. Nicht zuletzt mit Blick auf die nicht mehr benötigten Schablonen. Denn diese sind ziemlich groß und müssen auf das Untergestell gehoben und ausgerichtet werden. Auch die Lagerung der bis zu 2 mal 1,5 Meter großen Schablonen inklusive Ein- und Aussortieren ist Vergangenheit. Gleiches trifft für Wartung und regelmäßige Überprüfung zu. Insbesondere bei neuen Projekten oder neuen Kollegen war der Umgang mit den Schablonen nicht immer einfach – Erfahrung spielte eine wichtige Rolle. Anders bei Werklicht.
Screenshots des Teils bei jeder Projektion vermitteln gerade unerfahrenen Anwendern Sicherheit. Deswegen können sie mit dem Laserprojektionssystem sofort produktiv arbeiten – dies belegt ein interner Test von Siemens.
Schablonen sind unflexibel
„Der wohl größte Nachteil der Schablonen betrifft Änderungsprozesse. Ein solcher fällt etwa an, wenn ein Kunde ein anderes Feature wünscht und sich dadurch ein Anschweißteil ändert“, erläutert Betriebsmittelkonstrukteur Sahap-Tunc Sarpdag. „Dann müssen wir eine neue Schablone konstruieren, die von einer Fremdfirma gelasert wird. Das dauert zwei bis drei Wochen – in dieser Zeit läuft die Änderung aber schon in der Produktion.“ Mangels Schablone müssen die Werker dann händisch „anreißen“, was viel Zeit und Geld kostet. Mit Werklicht kommen Änderungen bei Bedarf innerhalb von ein bis zwei Stunden in die Produktion.
Zu schätzen wissen die Münchner ebenfalls die Kontrolle auf Vollständigkeit der Anschweißteile. Denn am Untergestell gibt es wegen zahlreicher Aggregate und Kabel Dutzende Anschweißteile. Arbeitet der Werker nur mit Zeichnungen und Schablonen, kann er schon mal ein Anschweißteil übersehen. Mit dem Laser-System ist der Werker hingegen in der Lage, bei dem in verschiedenen Segmenten unterteilten Untergestell acht bis neun Anschweißteile zu setzen – quasi automatisiert per Fernbedienung. Dabei wird jedes Anschweißteil nacheinander projiziert. Wenn er fertig ist, kann er das Programm nochmals von vorne starten und mit der Fernbedienung jedes Anschweißteil einzeln erneut durchspielen, um die Vollständigkeit zu prüfen. Dies wird bei Siemens schon alleine deswegen als gutes Feature betrachtet, weil es Sicherheit gibt, dass jedes Untergestell inklusive aller Anschweißteile an die nächste Ausbaustufe weitergegeben wird.
„Lupo“ bewährt sich
Siemens-intern heißt das System „Lupo“, was für Laser-unterstütztes Positionieren steht. Bei den Vorteilen überrascht es nicht, dass Siemens noch weitere Einsatzmöglichkeiten für Werklicht am Standort in Betracht zieht. Wenn sich Lupo weiter bewährt – wovon die Spezialisten überzeugt sind –, dann wird Siemens weitere Werklicht-Systeme anschaffen und nach den bisher knapp 40 Schablonen noch diverse weitere durch die Laser-Technologie ersetzen.
Der Vorteil, den die Münchner durch den Wegfall der Schablonen haben, wird sich signifikant weiter steigern – und „große Jungs“ werden sich auch künftig über Top-Lokomotiven von Siemens aus Allach freuen können. jbi
Autor: Theo Drechsel ist Fachjournalist aus München.
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