28.03.2013 – Kategorie: Hardware & IT
Integration von Systems Engineering in die PLM-Welt
Innovation ist die treibende Kraft des Ingenieurwesens – unabhängig davon, ob es sich um Mechanik-, Elektronik- oder reine Softwareanwendungen handelt oder eine Kombination aus diesen Fachrichtungen. Im 19. Jahrhundert waren Lösungen eher mechanisch geprägt. Innovative Ingenieure versuchten sich damals daran, Raketenantriebe in Lokomotiven zu integrieren. Bis in das 20. Jahrhundert hinein waren es meistens einzelne Ideengeber mit kleinen Teams, die ganze Produkte an einem Standort unter einem Firmendach entwickelten, produzierten und vertrieben. Die Komplexität und die Innovation von einem Produkt zum Nachfolger nahmen stetig zu, waren aber noch vom Ideengeber zu kontrollieren und steuerbar.
Erst allmählich setzten sich die Begriffe Time to Market und Business Case durch und beeinflussen seither die Vorgehens- und Arbeitsweisen des Ingenieurs. Diese Entwicklung zeigt das Bild. Hatte man beim Automobil zunächst noch Jahre oder Jahrzehnte Zeit, so reduziert sich dies beim Mobiltelefon auf Monate.
Das Bedürfnis nach SE
Die Notwendigkeit, verzahnt, vorausschauend und integrativ zu denken, entwickelte sich insbesondere in der Luft- und Raumfahrt. Treiber waren die Aufgabenstellungen selbst, aber auch Richtlinien und Vorschriften, die hier rigider sein müssen als in anderen Industrien.
Aus einfachen Systemen entwickelten sich komplexere, an denen große Teams arbeiten mussten und deren Einzellösungen es in ein Gesamtsystem zu integrieren galt. Um die Mission Mondlandung zu realisieren, waren keine Tests unter Umgebungsbedingungen möglich. Erschwerend kam hinzu, dass bei den Systemen eine enorme Zuverlässigkeit und Verfügbarkeit vorausgesetzt werden musste, Wartung und Reparatur vor Ort war nicht möglich.
Bei allen mit Menschen interagierenden Systemen stellt sich die Frage nach deren Sicherheit, schon dadurch entsteht Bedarf nach SE.
Laut dem International Council on Systems Engineering (INCOSE ) [1] basiert SE auf dem Systemdenken, das entsteht, wenn man die betrachteten Dinge hinterfragt, Zusammenhänge modelliert, Wechselwirkungen erklärt und diese sprachlich und modellhaft ausdrückt und diskutiert, um das Verständnis und die Arbeit mit Systemen zu verbessern.
Wenn zu Beginn des Systemlebenszyklus die Konsequenzen von Entscheidungen unklar sind, kann das dramatische Auswirkungen in späteren Lebensphasen haben. In den letzten Jahrzehnten gab es einige Beispiele, bei denen diese nicht beachteten Konsequenzen große Auswirkungen auf die Zeit und Kosten hatten.
Einflüsse auf die Arbeit des Ingenieurs
In der Gegenwart beeinflussen insbesondere zwei Umgebungsbedingungen oder die Kombination aus beiden die Arbeit des Ingenieurs. Zum einen nimmt Kollaboration und das verteilte Arbeiten zu, zum anderen erhöht sich die Zahl der Schnittstellen und bislang scheinbar unvereinbare Technologien werden zu einer neuen innovativen Lösung kombiniert, um die bestmögliche Lösung für Markt und Kunden zu entwickeln.
Bei einigen Systemen sind die Beträge für die Vorfinanzierung und die Gesamtkosten so hoch, dass nur noch Partnerschaften zwischen OEM und Lieferanten oder gar Mitbewerbern die Projekte zum Erfolg führen können. Ein klassisches Beispiel sind große Militär-Projekte. In den letzten Jahren zeigt sich dieser Trend aber auch in der Automobilindustrie und in der zivilen Luftfahrt. Ingenieure brauchen deshalb eine systematische Unterstützung, um den Lebenszyklus der Systeme zu koordinieren.
Im Vergleich zu den Projekten des 20. Jahrhunderts haben sich Verantwortlichkeiten, Zusammenarbeit und Entscheidungswege verschoben. Die Zeit- und Kostenvorgaben wurden jedoch nicht angepasst. Um das Projekt zu stemmen, müssen deshalb viele Ingenieure zur gleichen Zeit an einer Lösung arbeiten, womit der Ingenieur vor allem Fähigkeiten im sozio-technischen Umfeld benötigt, um die Herausforderungen zu bewältigen. Aber auch die Zusammenarbeit von Software-Werkzeugen und der jeweiligen Infrastruktur in den Firmen muss stimmen. Zudem erhöhen unternehmensübergreifende Prozesse diese Komplexität. Wenn der Lieferant beispielsweise mehrere Auftraggeber hat, so stellt sich für ihn die Frage, ob und wie die Entwicklungs- und Fertigungswerkzeuge sowie PLM-Welten zusammenpassen.
Die Evolution vom einfachen Systemen mit einer Schnittstelle und Funktion zum Komplexen lässt erkennen, dass der Bedarf an Systems Engineering zunimmt. Übertragbare Beispiele sind Kamera und Hörgerät.
Eine klassische Kompaktkamera hatte nur eine Schnittstelle zum Film, diese Schnittstelle ist genormt und harmonisiert. Heutige digitale Spiegelreflexkameras haben sowohl mechanische und elektrische als auch softwaretechnische Schnittstellen und Funktionen integriert. Um auf dem Markt zu bestehen, müssen die Schnittstellen zum PC, Druckersoftware, Speicherkarten, Datenkabel, Batterien, Objektiv- und Blitzsysteme in einem frühen Stadium der Entwicklung geklärt sein. Einige Modelle integrieren bereits Funktionen wie WLAN, GPS und den Internetzugang via Web-Browser.
Auch die Evolution des Hörgeräts zeigt, dass in den Anfangszeiten nur wenige Schnittstellen zu berücksichtigen waren. Beispielsweise zum Festnetztelefon. Heute setzt der Kunde voraus, dass er problemlos auch mit seinem Handy telefonieren und das Gerät mittels Fernbedienung handhaben kann. Die Komplexität steigt, auch aufgrund von Miniaturisierung, Funktionssicherheit und neuen Regularien.
Zudem nimmt die Vernetzung der Systeme immer weiter zu. Sie werden intelligenter und damit ergeben sich komplexere Abhängigkeiten. Somit sind eine geeignete Architektur, Modularität, Variantenvielfalt, und deren Entwicklungspotenziale für neue Generationen die treibenden Kräfte. Auf diese Weise entwickeln sich immer mehr Unternehmer unwissentlich zum Systementwickler. Das betrifft gerade auch mittelständische Unternehmen. Sie benötigen eine Integration des Systemdenkens in Ausbildung und Praxis, um den Wirtschaftsstandort Deutschland zu festigen.
Den Wandel unterstützen
Durch den oben beschriebenen Bedarf sind die SE-Sprachen, -Anwendungen und -Module schon weitgehend in die PLM-Umgebungen integriert. Ausgehend von der System Modeling Language (SysML) haben die Tool-Hersteller diese in die SE-Welt implementiert. Die Sprache hat sich in den letzten Jahren immer weiter verfestigt und sich in vielen Projekten und der Industrie bewährt. Internationale Arbeitsgruppen von INCOSE haben durch Rückmeldungen ihre Erfahrungen in eine neue Version eingebracht. Die GfSE-Arbeitsgruppe MBSE (modellbasiertes SE) hat ein Teleskop der Südsternwarte exemplarisch in SysML abgebildet. Die Ergebnisse sind im Internet frei zugänglich [4].
Anbieter von Werkzeugen haben die SE-Ansätze integriert und eine Durchgängigkeit von den Anforderungen bis hin zum Hardware in the Loop (HiL) von Subsystemen in der Praxis demonstriert. Ansatz der SysML ist, verschiedene Sichten und Disziplinen mittels eines Modells durch die Entwicklung zu führen. Da die Werkzeughersteller aus den unterschiedlichen Sichten kommen, sind hier Abweichungen zu erkennen und eine finale Befriedigung aller Wünsche bleibt noch offen. Der Darstellung eines komplexen Systems in einem Modell vom Konzept bis zum detaillierten Design sind Grenzen gesetzt. Damit bietet sich eine Lösung von unterschiedlichen Modellen auf den einzelnen Ebenen eher an. Diese lassen sich sehr gut darstellen und handhaben, um Zeit und Kosten zu sparen und weitgehend auf dokumentenbasierte Entwicklung zu verzichten. Das beschleunigt die Iterationen und führt schneller zu einem Reifegrad, der eine gemeinsame Sicht auf die bestmögliche Lösung erlaubt.
Auch in späteren Lebensphasen des Systems lassen sich bei Änderungen schnell und zuverlässig Einflüsse aufzeigen und die neue Lösung schneller in einem interdisziplinären und verteilten Umfeld umsetzen. Die Hersteller treiben die Integration dieser SE-Module in PLM-Systeme intensiv voran und erste Erfolge lassen sich bereits in der Praxis zeigen. Wichtig ist, die Standardisierung der Austauschformate zu unterstützen, um eine technische Lösung, auch verteiltes Arbeiten über Unternehmensgrenzen hinweg zu ermöglichen und damit die Effizienz und Effektivität zu verbessern. Bei den Anforderungen und dem Austausch von Spezifikationen gibt es bereits erste Standards. Diesen Trend gilt es, weiter zu verfolgen und auch andere Formate zu harmonisieren und zu verbessern.
Die Basis aller SE-Ansätze sind Funktionen und eine Architektur, die keine technischen Lösungen vorgeben. Es bildet die Grundlage, die bestmögliche Modularität und das größtmögliche Entwicklungspotenzial in das Zielsystem hinein zu entwickeln. Um SE auch für kleine Projekte nutzbar zu machen, hat die GfSE Arbeitsgruppe MkS (moderat komplexe Systeme) [2] Strategien entwickelt, nach denen für jedes Projekt eine eigene Architektur entwickelt werden muss. Also ein Prinzip, nach dem die inneren Elemente eines Systems komponiert und zueinander in Beziehung gesetzt sind. Im Sinne der gezielten Erstellung und Wartung des Systems ist es entscheidend, die Systemarchitektur zu kennen. Daher sollte sie in einer Architekturbeschreibung dokumentiert werden, die auf Dokumenten oder besser Modellen basiert. Die Architektur sollte den Sichtweisen der verschiedenen an der Architektur beteiligten Gruppen gerecht werden. Es ist daher nötig, verschiedene Sichten auf denselben Sachverhalt anzubieten. Dies ist eine Stärke modellbasierter Verfahren. Zur Erstellung einer Architekturbeschreibung existieren vor allem Methoden, die sich auf funktionale Anforderungen stützen.
Für große Systeme gibt es bereits Leitfäden. Die Arbeitsgruppen der GfSE entwickeln einen SE-Leitfaden, basierend auf einem modellbasierten Ansatz, in den anerkannte und eigene Erfahrungen einfließen, um System-Ingenieuren in kleineren Projekten eine praktische und pragmatische, aber auch sichere Vorgehensweise an die Hand zu geben. Ziel ist es, wiederkehrende Abläufe zu automatisieren und den Grad der Wiederverwendung zu erhöhen. Immer vorausgesetzt, dass der zuständige System-Ingenieur sein eigenes Wissen und die eigene Erfahrung mitbringt und nicht als Laie den Leitfaden nutzt. Durch diese Vorgehensweise sollen Zeit und Kosten gespart, die Zufriedenheit der Betroffenen gesteigert und Fehler verringert werden. Damit bietet SE Ingenieuren eine bessere Unterstützung im Alltag.
Ein wohldefinierter SE-Prozess und eine geeignete Werkzeuglandschaft, kombiniert mit einer geeigneten Systems-Engineering-Ausbildung, sind für Ingenieure und Unternehmen Erfolgsfaktoren im 21. Jahrhundert.
Autor: Sven-Olaf Schulze ist Vorsitzender der Gesellschaft für Systems Engineering e.V. (GfSE) und Senior-Experte bei der Unity AG in Hamburg.
Bildquelle: Bernafon
Literatur:
[1] Deutsche Übersetzung des INCOSE-Handbuchs in Version 3.2.2, GfSE-HB-001-01.
[2] GfSE MkS Arbeitsgruppe; S. Eisenring, M. Frikart, W. Gerritsen, C. Krainer, J. G. Lamm, A. Mettauer, M. Walker, M. Zollinger; „Auf dem Weg zu einem Leitfaden im Systems Engineering für moderat-komplexe Systeme“; Proceedings vom Tag des SE (TdSE) 2012.
[3] GfSE FAS-Arbeitsgruppe; M. Dänzer, W. Gerritsen, J. G. Lamm, T. Weilkiens; „Funktionale Architektur trifft Schichtenarchitektur“; Proceedings vom TdSE2012.
[4] GfSE MBSE Arbeitsgruppen Ergebnisse zu SysML unter www.mbse.gfse.de.
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