30.07.2015 – Kategorie: Technik

Individuelle Lösungen mit Standardkomponenten

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Der 115 Kilometer lange Elbe-­Seitenkanal verbindet die Elbe bei Hamburg mit dem Mittellandkanal bei Wolfsburg. Gut 40 Kilometer südöstlich von Hamburg verläuft er durch Scharnebeck, eine 3.000-Einwohner-Gemeinde im Landkreis Lüneburg. Die Wasserstraße überwindet insgesamt einen Höhenunterschied von 61 Metern: 23 Meter überbrückt eine Schleuse bei Uelzen und 38 Meter das Schiffshebewerk Lüneburg. Zur Zeit seines Baus war es das größte Doppel-Senkrecht-Schiffshebewerk der Welt. Es kostete 152 Millionen DM und ging nach achtjähriger Bauzeit 1976 für die Schifffahrt in Betrieb. Betreiber ist das Wasser- und Schifffahrtsamt Uelzen, eine Unterbehörde des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur.
Der Kanal hat eine Wasserspiegelbreite von 53 Metern, ist vier Meter tief und fasst insgesamt 20,4 Millionen Kubikmeter Wasser. Neben dem Schiffshebewerk Lüneburg gehören zum Kanal weitere technische Einrichtungen: die Schleuse Uelzen, die Häfen Wittingen, Uelzen, Lüneburg sowie Sicherheits- und Sperrtore, Pumpwerke und Schöpfwerke. 55 Brücken führen über den Kanal und 10 Tunnel darunter. Es gibt drei Kanalbrücken sowie 32 Düker und Durchlässe.
Auf dem Elbe-Seitenkanal werden vor allem Komponenten für PKWs, Getreide, Salze, Holz und Schrott sowie Energierohstoffe wie Mineralöl und Kohle transportiert. Der Schiffsverkehr hängt von der aktuellen Wirtschaftslage ab. Beispielsweise fuhren im Jahr 2013 etwa 16.000 Schiffe durch das Hebewerk. Auch Naturerscheinungen wie Hochwasser oder gelegentliches Eis im Winter können den Schiffsverkehr beeinträchtigen. Ein Hochwassersperrtor Richtung Elbe verhindert, dass bei extremem Elb-Hochwasser
Wasser in den Kanal gedrückt wird.

Niveausteigerung mit Power

Das Schiffshebewerk Lüneburg in Scharnebeck ist ein Doppel-Senkrecht-Schiffshebewerk; es hat zwei nebeneinander liegende Durchfahrten, in denen sich unabhängig voneinander zwei Tröge auf und ab bewegen. Sie bieten eine nutzbare Länge von 100 Metern, eine nutzbare Breite von 12 Metern sowie eine Wassertiefe von 3,50 Metern. Die Tröge hängen jeweils an 240 Stahlseilen, die über Seilscheiben laufen. Jede einzelne hat einen Durchmesser von 3,40 Metern und wiegt vier Tonnen. Anders ausgedrückt: Jede Scheibe ist doppelt so groß wie ein Mensch und schwerer als 50 Personen. Ein einzelnes Seil ist 54 Millimeter dick, 54 Meter lang und wiegt 800 Kilogramm.
Die Tröge heben Tonnage im wahrsten Sinne des Wortes, denn die Gesamtmasse der beweglichen Teile des Troges einschließlich des Wassers beträgt 12.000 Tonnen – so viel wie 14 komplette ICE-Züge mit je 16 Wagen. Davon wiegt allein der mit Wasser gefüllte Trog 6.000 Tonnen, das Gewicht der Gegengewichte beträgt genauso viel. Weil man das Eigengewicht der mit Wasser gefüllten Tröge durch Gegengewichte ausgleicht, reicht hierfür die vergleichsweise geringe Antriebsleistung von 4 x 50 kW aus, erzeugt  durch Drehstrommotoren. Aus Sicherheitsgründen ist jedoch eine Antriebsleistung von 4 x 160 kW installiert.
Die Fahrzeiten eines Trogs beim Heben beziehungsweise Senken dauern jeweils rund drei Minuten. Das entspricht bei 38 Metern Höhenunterschied etwa 12 bis 13 Meter pro Minute, wobei langsamer angefahren und angehalten wird. Die Gesamttransferdauer – einschließlich der Ein- und Ausfahrt – beträgt zirka 20 Minuten pro Schiff.
Die Tröge verschließt man durch ein vorderes und hinteres Sektionaltor. Jedes dieser Hubtore wird mit dem Haltungstor, das den Schifffahrtskanal abschließt, durch zwei im Antrieb gekoppelte Gliederketten gehoben, die links und rechts des Tors an einem Maschinenhaus entlanglaufen.

Volle Ladung auf und ab

Vor dem Verfahren des Troges lösen sich beide Tore, so dass der Trog für sich alleine steht und sich verfahren lässt. Jeder Trog wird zwischen vier Türmen geführt, die in ihrem oberen Teil die Seilscheibenhallen beherbergen.
Auf der höhergelegenen Südseite des Schiffshebewerks befinden sich vor den Türmen insgesamt vier Maschinenhäuser, sogenannte Pylone. Die Bezeichnung stammt von altägyptischen und -griechischen Pfosten, die ein Eingangstor flankieren. Diese roten Pylone beherbergen die Antriebstechnik der Tore des Schiffshebewerks. Zwischen den Trögen, mit Blick auf die Vorlandbrücke im Süden, liegt der Steuerstand. Hier laufen sämtliche Informationen zusammen, Kamerabilder und Messwerte. Die Bediener überwachen den Schiffsverkehr an der Schleuse und im Vorland. Sie tragen eine hohe Verantwortung für reibungslose und sichere Abläufe am Hebewerk.
Fährt ein Schiff in den Trog, verdrängt es die Menge Wasser, die das Schiff wiegt. Dadurch bleibt die Gesamtmasse des befüllten Troges gleich. Übrigens erzeugt jedes Schiff eine Welle, die am Trogende reflektiert wird und zurückläuft. Erst danach darf man das Tor schließen. Bei Wassermangel in der Kanalhaltung oberhalb des SHW lässt sich durch vier elektrisch betriebene Rohrgehäusepumpen (4 x 1.200 kW, 4 x 2,3 m³/s) Elbwasser in den Kanal pumpen.

Jungbrunnen für das Hebewerk

Zur Gewährleistung der Anlagensicherheit und -verfügbarkeit musste der Betreiber nach über 35 Jahren Betrieb eine Grundinstandsetzung des Schiffshebewerks vornehmen. Das Bauwerk wurde überprüft sowie Bauteile, Gebäudetechnik und Teile der Antriebstechnik erneuert. Damit man den Schiffsverkehr während der Retrofitmaßnahmen aufrechterhalten konnte, erneuerte man zunächst nur die Ostseite des Hebewerks. Während der knapp zweijährigen Umbauzeit wurden die Seilscheiben am Trog auf der Ostseite ersetzt und eine Seilschmieranlage installiert. Im Zuge dieses Retrofits wollte man auch das Drehmoment und die Leistung der Antriebe für die Tore der Tröge erhöhen. Statt der bisher installierten Leistung von 55 kW sollten die neuen Motoren 75 kW aufbringen. Auch das Nenndrehmoment des Getriebes erhöhte sich durch den Umbau von bislang 80 kNm auf 130 kNm.
Eine Besichtigung vor Ort zeigte, dass die Industriegetriebe von SEW-Eurodrive recht genau in die vorgegebene Spitzenhöhe passen. Das Bruchsaler Unternehmen hat auch Zwischengrößen in seinem Produktsortiment, was nicht bei allen
Anbietern der Fall ist. Dieses Alleinstellungsmerkmal ist ein wichtiger Wettbewerbsvorteil des Unternehmens – zum Nutzen der Kunden. Das letztlich umgesetzte Antriebskonzept erstellte das Drive Technology Center (DTC) Hannover, ebenso die Zusammenstellung der Komponenten. Kundenorientierung nach innen und außen gehört zum Selbstverständnis der Bruchsaler Antriebsspezialisten. Es bildet die Basis für den mittlerweile über 80-jährigen SEW-Erfolg.

Kraft der zwei Getriebe

Die elektromechanische Antriebstechnik der Tore stammt aus den 1970er-Jahren. Sie besteht aus einem Drehstrom-Asynchronmotor mit Bremsgerät und einem Industriegetriebe. Dieses ist über eine mechanische Verbindung mit einer zweiten, am Tor gegenüberliegenden Motor-/Industriegetriebeeinheit gekoppelt. Beide Motoren werden über einen gemeinsamen Umrichter (500 Volt, 0 bis 50 Hertz) mit Spannung versorgt. Durch die variable Frequenz kann man ein sanftes Beschleunigen und Abbremsen des Torantriebes gewährleisten. Als Reserve für Notsituationen ist ein elektrischer Hilfsantrieb vorhanden. Zusätzlich ist ein Notbetrieb per Handrad vorgesehen.
Als Hauptantrieb kommt der 75-kW-Drehstrommotor DVE280 S4 von SEW-­Eurodrive zum Einsatz. Über eine Kupplung ist er mit dem SEW-Industriegetriebe X4KS230, das drei Stirnradstufen und eine Kegelradeingangsstufe hat, verbunden. Der Auftraggeber wollte, dass die ursprüngliche Grundstruktur des Systems erhalten bleibt. Die mechanische Verkettung der beiden Torantriebe war bereits bei der alten Ausführung vorhanden und sollte so beibehalten werden. Um diese Forderung zu erfüllen, musste man aus dem Hauptgetriebe eine mechanische Verbindung zum zweiten Hauptgetriebe schaffen, das sich auf der anderen Seite des Schleusentors befindet. Basierend auf einem Standard-Industriegetriebe der Baureihe X4 fertigte SEW-Eurodrive hierfür eine Modifizierung an. Nach der ersten Getriebestufe wird eine zweite Abtriebswelle aus dem Getriebe herausgeführt. Hierzu musste man lediglich die Welle dieser Getriebestufe verändern und den Lagerdeckel austauschen. Diese Welle führt zu einem Verteilergetriebe. Hierbei handelt es sich um ein Kegelradgetriebe, das die Drehbewegung der Eingangswelle über einen Kegelradsatz auf zwei gegenüberliegende Ausgangswellen mit gleicher Drehzahl verteilt. Eine Ausgangswelle stellt über eine Gleichlaufwelle die mechanische Dauerverbindung zum zweiten Antriebssystem her. An die zweite Ausgangswelle des Verteilergetriebes ist über eine Schaltkupplung der Hilfsantrieb angeschlossen. Im Normalbetrieb ist er ausgekuppelt, im Notfall kann auch er das Tor heben. Dabei arbeitet er mit deutlich kleinerer Leistung als der Hauptantrieb und läuft etwa nur mit einem Zehntel von dessen Drehzahl. Der Hilfsantrieb ist ein SEW-Standard-Drehstromasynchronmotor K127 DRE180 M4 mit einem zweiten Motorwellenende. Hierauf lässt sich das Handrad für den Notbetrieb aufsetzen.
Das Drehmoment wird von der Abtriebswelle des Industriegetriebes über ein Ritzel auf eine Dreifach-Rollenkette übertragen, die das Hubtor bewegt. Auf der anderen Seite des Tores ist die gleiche Antriebskonstruktion vorhanden. Beide Industriegetriebe sind – wie bereits erwähnt – über eine Gleichlaufwelle mechanisch synchronisiert, die über das Tor hinweg verläuft. Sie ermöglicht ein gerades Hoch- und Runterfahren des Tores. Zusätzlich wurden Sensoren zur Funktionsüberwachung vorgesehen, zum Beispiel für die Kontrolle der korrekten Funktion der Bremse. Für die elektrische Höhenüberwachung gibt es auf der einen Seite des Tores einen Absolutwertgeber.

Zuverlässiger Service ist Standard

Zum Einbau des neuen Antriebspakets musste man die Pylonhäuser abschneiden und anschließend die neuen Maschinenhäuser aufsetzen. Zudem bekamen sie eine neue Dämmung, um extreme Temperaturen im Sommer und im Winter besser zu beherrschen. Die Grundinstandsetzung des Osttroges erfolgte von Juni 2010 bis Mai 2012. Mit der installierten Antriebseinheit erhielt der Kunde ein weitgehend standardisiertes Antriebspaket, das über Jahre zuverlässig arbeiten wird und für das auch in einem eventuellen Servicefall schnell und unproblematisch Ersatzteile zur Verfügung stehen. Ab 2016 sollen die Reftrofitmaßnahmen für den Westtrog erfolgen.

Randolf Bieritz (oben) leitet das Drive Technology Center Nord von SEW-Eurodrive in Hannover und Christian Holze ist Innendiensttechniker Industriegetriebe im Drive Technology Center Nord.

 


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