18.11.2022 – Kategorie: Hardware & IT

Hochgeschwindigkeitskamera: Einsatz in der Grundlagenforschung der Bionik

Hochgeschwindigkeitskamera: Einsatz in der Grundlagenforschung der BionikQuelle: N. Kellaris et al., Adv. Sci. 8, 2100916 (2021)

Um Zukunftsvisionen wie humanoide Roboter mit künstlichen Gelenken und Muskeln realisieren zu können, bedarf es komplexer Grundlagenforschung. Am Max-Plank-Institut für intelligente Systeme (MPI-IS) in Stuttgart etwa nutzen die Forscher Ultra-Highspeed-Kameras, um die komplexen Abläufe in bionischen Gelenken zu untersuchen.

Um bionischen Gelenken Leben einzuhauchen, werden kleine, mit Flüssigkeit – beispielsweise Pflanzenöl – gefüllte Kunststoffbeutel, elektrostatisch in Bewegung versetzt. Die Stärke und Form der angelegten elektrischen Spannungen bestimmen die Stärke, Art und Form der Bewegung, um etwa den komplexen mechanischen Vorgang nachzuahmen, den eine menschliche Hand auszuführen im Stande ist. Die ganze Vielfalt von Rechtecks-, Dreiecks-, Sinus- und Linearspannung sind nutzbar. Mehrere Gelenke in beliebigen geometrischen Formen lassen sich so hintereinanderschalten und ähnlich wie Finger oder Hände anordnen. Warum dieser Aufwand? Die menschliche Hand ist wie kaum ein anderes Greifgerät außerordentlich flexibel: Kann es doch ein rohes Ei ebenso greifen und bewegen wie eine kiloschwere Getränkekiste. Doch nicht nur der Mensch ist Vorbild für die bionischen Greifer, die die Forscher untersuchen.

Mit solcherart Bionik erfolgt auch die Nachahmung der Bewegungen der Beine von Spinnen und Insekten in Geschwindigkeit, Kraft und bidirektionaler Bewegung. Trotzdem ist die Nachbildung von menschlichen Extremitäten (Finger, Hände, Arme, Beine) eine Königsdisziplin, um schließlich humanoide Robotik zu unterstützen. Am MPI-IS wird seit über einem Jahr an diesen und anderen komplexen bionischen Vorgängen in ihren Grundlagen geforscht. Die Forschungsarbeiten sind inzwischen auch unter dem Titel der sogenannten Spider-inspired Electrohydraulic Soft-actuated joints oder kurz SES-Gelenke bekannt geworden.

Hochgeschwindigkeitskamera macht Abläufe sichtbar

Um das Bewegungsverhalten eines Gelenkarmes – extrem zeitgedehnt mit sehr hoher Bildauflösung – sehr genau verfolgen und quantitativ sowie qualitativ Beschleunigungen und Geschwindigkeiten auswerten zu können, nutzen die Forscher am MPI-IS aktuelle CMOS Sensor-Technologie. Die Phantom v2640 Kamera von dem Unternehmen High Speed Vision liefert die erforderlichen Bildsequenzen für genaue Bewegungsanalysen. Mit der gleichzeitigen Verfolgung der geometrischen Verformung der Aktuatoren, einschließlich dem darin erfolgenden Fließen und damit dem Strömungsverhalten der Flüssigkeit, analysieren die Forscher so auch viele andere wichtige Aspekte und Funktionen der bionischen Gelenke. Die Ultra-Highspeed-Videosequenzen (U-HS) ermöglichen dabei eine detaillierte Bild-zu-Bild-Analyse bei Dehnungsraten bis zu 7.000 Prozent pro Sekunde. Arbeitsbereiche über 100.000 Bilder pro Sekunde entsprechen einer Schrittweite von 0,01 Millisekunden. Dabei werden die vielen Bilder zeitsynchron zu anderen Messdaten erfasst.

Vorgänge im Bereich von Millisekunden werden komplett aufgezeichnet, um daraus präzise Aussagen zu extrahieren. Orientierungsgröße ist beispielsweise ein Beutel von einem Zentimeter Länge, der mit 0,1 Millisekunden bei echter Full-HD Auflösung und 10.000 Bildern pro Sekunde aufgenommen wird. Das ermöglicht das Erfassen von Bewegungsdifferenzen im Bereich von 0,001 Millimetern.

Hochgeschwindigkeitskamera
Mit den mehrfach übereinander anordbaren „Taschen“ können unterschiedlich empfindliche Objekte mit einem Greifer sicher gefasst werden. Bild: N. Kellaris et al., Adv. Sci. 8, 2100916 (2021)

Hochgeschwindigkeitskamera: Ultra-Highspeed-Videos liefern präzise Aufnahmen

In den Forschungen rund um die SES-Gelenke ermöglichen Laser nur punktuelle Messungen, wohingegen sich mittels U-HS-Video-Aufnahmen die gesamte Aktuator-Geometrie mit einer großen Bandbreite von präzisen Informationen, sowohl quantitativ als auch qualitativ untersuchen lassen. Gleichzeitig mit der Beutelverformung und Gelenkbewegung lassen sich zum Beispiel auch winzige Luftblasen in der Flüssigkeit verfolgen. Das liefert wichtige Hinweise auf das Strömungsverhalten der Flüssigkeit im Beutel, entsprechend den jeweils angelegten Spannungen. Von großem Vorteil ist auch die in diesem Fall hohe Bildauflösung bei gleichzeitig extrem hohen Bildraten.

Die Phantom v2640 ist aktuell die weltweit schnellste 4-Megapixel-Hochgeschwindigkeitskamera mit einer maximalen Auflösung von 2048 mal 1952 Pixeln, bei einer Framerate von 6.600 Bildern pro Sekunde und 12-bit Bildauflösung. In reduzierter Auflösung sind 300.000 Bilder pro Sekunde bei einer minimalen Belichtungszeit von 142 Nanosekunden möglich. Im Binned-Mode (2×2 Pixel) wird die Lichtempfindlichkeit von Mono 16.000 ISO bis auf 25.000 ISO gesteigert. Diese hohe Lichtempfindlichkeit ermöglicht Aufnahmen bei Tageslicht, was die Handhabung und den Versuchsaufbau erheblich vereinfacht. Es ist keine aufwändige Beleuchtung erforderlich, deren eventuelle Einflüsse (Wärmeeintrag) den Versuch beeinträchtigen könnten. Durch die hohe Lichtempfindlichkeit lässt sich die Blende der Objektive weitgehend schließen, um den Tiefenschärfebereich zu erweitern.

Die Hochgeschwindigkeitskamera verfügt über viele weitere beeindruckende Leistungsdaten: Eine extrem schnelle interne Bildsensor-Abtastrate von 26 Gigapixel pro Sekunde und ein Ringspeicher mit bis zu 288 Gigabyte beispielsweise. Über die 10-Gigabit-Ethernet Schnittstelle steht eine hohe Download-Geschwindigkeit zur Datensicherung zur Verfügung. Optional ist ein CineMag-V-Speicher mit bis zu 8 Terabyte wählbar – von diesem können 288 Gigabyte Daten in weniger als 5 Minuten heruntergeladen werden. Aus den technischen Daten ergibt sich, dass die Hochgeschwindigkeitskamera die Dynamik der Bewegungen in allen ihren Aspekten mit hoher messtechnischer Auflösung sehr präzise aufzeichnen kann. Die einzelnen Bilder von HS-Video sind mit weiteren Daten aus zusätzlicher Messtechnik zeitlich exakt synchronisiert. Dies qualifiziert die Aussagen zu den jeweils erfassten Ereignissen.

Die Vorteile der bionischen Greiftechnik

Die elektrohydraulischen „Muskeln“ sind in ihrem Verhalten in einigen Punkten Elektromotorlösungen überlegen. Beispielsweise sind die SES-Gelenke sehr sicher gegenüber Überlastung. Zudem lässt sich durch Hintereinanderschalten mehrerer Gelenke die Greiftechnik sehr sensibel und vielseitig gestalten – ähnlich der menschlichen Hand. Etwa kann das erste Gelenk sehr kraftvoll, das letztes Gelenk sehr sanft ausgelegt sein. Diese Flexibilität bezieht sich nicht nur auf die jeweils ausgeübten Kräfte, sondern auch auf die Beschleunigungen der einzelnen Gelenkteile. Die einfach zu steuernden Aktuatoren funktionieren auch unter Wasser. Die Flüssigkeit in den Beuteln ist kaum kompressibel und so erzielen sie auch unter Wasser einen ebenso sensiblen „Griff“ wie an Land. Auch erlauben die Dichtheit und Beständigkeit der Materialien die Desinfektion mit gängigen Flüssigkeiten. Die weich arbeitenden Gelenke sind leicht, flink, raumsparend und günstig herstellbar sowie vielseitig gestaltbar. Es ergibt sich ein geringer Energieverbrauch.

Hochgeschwindigkeitskamera
„In der Grundlagenforschung stößt man ständig auf neue Fragen, Aspekte und Anforderungen. Dementsprechend muss die Ultra-Highspeed-Kamera für unsere Analysen einen sehr hohen Leistungsumfang und eine große Funktionsbreite bieten.” – Dr. Philipp Rothemund, Postdoctoral Researcher, MPI-IS. Bild: High speed Vision

Bionische elektrohydraulische Aktuatoren haben daher in der zukünftigen Soft-Robotik und anderen interagierenden Bereichen ein riesiges Potential in Gestaltung, Anwendung und Wirtschaftlichkeit.

Der Autor Dipl.-Ing. Kamillo Weiß ist freier Fachjournalist.

Lesen Sie auch: Internationales Projektmanagement: So lassen sich Grenzen im Projektalltag erfolgreich überwinden.


Teilen Sie die Meldung „Hochgeschwindigkeitskamera: Einsatz in der Grundlagenforschung der Bionik“ mit Ihren Kontakten:


Scroll to Top