17.11.2022 – Kategorie: Konstruktion & Engineering
Fahrwerk-Simulation: Die Digitalisierung der Luftfahrtindustrie
Liebherr-Aerospace fertigt in Lindenberg integrierte Systeme für die Luftfahrtindustrie – von der Konzeption bis zum Service. Was dabei der Einsatz von Simulation bringt, zeigt dieser Bericht.
Weltweit tätige Hersteller von Flugzeugen und Hubschraubern nutzen Fahrwerks-, Flugsteuerungs- und Betätigungs- sowie Luftmanagementsysteme und Elektroniken von Liebherr-Aerospace. Erdacht, entwickelt und produziert werden diese an Standorten in Lindenberg im Allgäu und Toulouse in Frankreich. Sie verrichten zuverlässig ihren Dienst auf – und vor allem über – allen Kontinenten und Weltmeeren. 1960 zunächst mit Fokus auf Reparaturen und Ersatzteile gegründet, konzipiert, entwickelt, produziert, qualifiziert und betreut das Werk in Lindenberg heute auf dem 160.000 Quadratmetern großen Gelände komplette integrierte Systeme. Hier arbeiten rund 2.600 Menschen.
Dabei setzt die gesamte Firmengruppe Liebherr mit ihren unterschiedlichen Produkten und Systemen in den Werken (über 140 Niederlassungen weltweit), Produktsegmenten und Ländern bei der Simulation auf eine Konstante: Ingenieure und Ingenieurinnen von Liebherr simulieren mit Ansys-Software in Verbindung mit der bei Bedarf ergänzenden Unterstützung durch den Partner Cadfem. Dabei kann der vorliegende Artikel nur einen kleinen Ausschnitt von dem abbilden, was in Sachen Simulation mit Ansys/Cadfem in der gesamten Firmengruppe Liebherr läuft. Doch was muss Simulation in der Luftfahrt leisten?
Sicher, leicht und wirtschaftlich
Mehr als in anderen Branchen ist in der Luftfahrt die Performance und Wirtschaftlichkeit der Zulieferteile eng mit ihrem Eigengewicht verknüpft: Jedes eingesparte Gramm macht den Flugbetrieb ökonomischer und ökologischer. Allerdings darf Gewichtsreduktion niemals auf Kosten von Funktionalität und Sicherheit gehen. Damit kommen die über 30 Simulationsingenieure bei Liebherr-Aerospace am Standort Lindenberg ins Spiel: Mit detaillierten digitalen Modellen ermitteln sie Möglichkeiten zur Gewichtsreduzierung unter den erwähnten Bedingungen. Unzählige Szenarien werden systematisch durchgerechnet, bis die objektiv beste Option gefunden ist. Erst diese wird als realer Prototyp umgesetzt und zur finalen Verifikation umfassenden Tests am Versuchsstand unterzogen.
Dieses Vorgehen spart viele Iterationsschleifen, für die sonst die teuren Prototypen notwendig würden. Abstriche bei der Qualität werden hingegen nicht gemacht, denn die Übereinstimmung der Vorhersagen mit den Ergebnissen am Prüfstand ist sehr hoch. Dieser Vorteil zeigt sich anschaulich im Entwicklungsprozess von Bauteilen, die mit agilen Fertigungstechniken wie dem 3D-Druck hergestellt werden. Die Ingenieure evaluieren das Konzept-Bauteil über virtuelle Modelle so präzise, dass der erste schnell hergestellte physikalische Prototyp in der Regel auf Anhieb „passt“.
Die Strukturmechanik als Vorreiter
Die Ingenieure bei Liebherr beantworten mit Fahrwerk-Simulation insbesondere Fragestellungen aus der Strukturmechanik. Sie analysieren die statische Tragfähigkeit, das Bauteilversagen und ermitteln die Ermüdungsfestigkeit von Komponenten unter quasi-statischen oder dynamischen Beanspruchungen. Bei den statischen Analysen ist es Aufgabe und Anspruch der Ingenieure, in ihrem Modell die tatsächliche Traglast, den Versagensort und den Versagensmodus innerhalb sehr enger Grenzen korrekt abzubilden. Anspruchsvoll sind die „virtuellen Prototypen“ auch deshalb, weil sie unterschiedliche Arten nichtlinearen Verhaltens einbeziehen. Dazu gehören komplexe Phänomene, wie durch hohe Dynamik ausgelöste Verformungen, etwa wenn das Fahrwerk aufsetzt.
Zur Sicherheit simulieren, messen und nochmals messen
Die Nachweisführung für tragende Elemente in der Luftfahrt bringt es mit sich, dass künftige Produkte nicht nur über eine einzige Methode überprüft werden. Die Verifikation aller Modelle und Parameter ist von einer solch überragenden Bedeutung, dass trotz der umfangreichen Vergleiche der Simulationsergebnisse mit Messwerten, aufgenommen mit DMS (Dehn-Mess-Streifen), ein drittes Instrument – der Abgleich mit optischen Mess-Systemen an Bedeutung gewinnt.
Da die Gesamtanalyse die maßgebliche, zulassungsrelevante Nachweisführung darstellt, ergeben sich hohe Anforderungen an ihre Dokumentation und Durchgängigkeit. So muss beispielsweise auch noch in Jahrzehnten zweifelsfrei nachvollziehbar sein, welche Geometriedaten unter welchen Lastbedingungen unter Verwendung weiterer Daten wie Materialkennwerten, Oberflächeneigenschaften und so weiter zu den jeweiligen Ergebnissen geführt haben. Fahrwerk-Simulation hält dies genau und transparent fest.
Viel Erfahrung mit der Fahrwerk-Simulation
Vor allem das Know-how der eigenen Experten versetzt das Unternehmen in die Lage, äußerst realitätsnahe Prognosen der tatsächlichen Versagenslasten und -charakteristiken am Bildschirm zu ermitteln. Dies veranschaulichen auch mehrere Fahrwerksprojekte. Diese Komponenten sind, wie bereits angeklungen, komplexen Lastfällen und Wechselwirkungen ausgesetzt – trotzdem konnten die errechneten Simulations-Ergebnisse durch Prototypentests bestätigt werden. Wenn es um die Zulassung von Derivaten bestehender Fahrwerke geht, kommt das Liebherr-Team heute sogar ohne Versuche mit Prototypen aus. Die Durchlaufzeiten für Simulationen konnte das Unternehmen auch dadurch um Faktoren verkürzen, indem heute alle verwendeten Simulationswerkzeuge in einer einheitlichen Arbeitsumgebung integriert sind.
Über die Strukturmechanik hinaus
Ziel der Verantwortlichen bei Liebherr-Aerospace ist, in allen physikalischen Domänen, die Fahrwerk-Simulation als primäre Nachweisführung zu etablieren und Tests ausschließlich zur Validierung der Modelle einzusetzen. Ein Beispiel dafür ist die Strömungsanalyse, die im Unternehmen eingeführt wird, um auch die dynamischen Eigenschaften des Fahrwerks im Vorfeld noch präziser bestimmen und optimieren zu können. Noch erfolgt dies durch zahlreiche Prototypentests. Diese sollen sukzessive und qualitativ gleichwertig durch Simulation abgelöst werden, was künftig zu erheblichen Zeit-, Material- und Kosteneinsparungen führen soll. Reale Tests dienen dann auch auf diesem Gebiet nur noch der Validierung vorangegangener Simulationen.
Die Demokratisierung der Fahrwerk-Simulation
Neben der Überprüfung von Komponenten und Produkten soll die Simulation in Lindenberg noch in eine ganz andere Rolle schlüpfen: Die Verantwortlichen sprechen von der „Demokratisierung der Simulation“ und spielen damit auf neue, intuitive Simulationstools an, die nicht wie die klassischen den Anspruch erheben, kleinste Details zu verifizieren. Vielmehr sollen diese Werkzeuge statt von Simulationsexperten beispielsweise von den Konstrukteuren bedient werden, damit diese tiefer in ihre Modelle „eintauchen“ können, um Trends aufzuspüren, unterschiedliche Varianten schnell und objektiv miteinander zu vergleichen und um Ideen auszuprobieren. Die Konstrukteure können so ihre Bauteile „digital besser verstehen“.
Sogar Möglichkeiten fernab von Forschung und Entwicklung wurden identifiziert – im technischen Vertrieb und im Kundendienst etwa: Die Kommunikation mit Auftraggebern könnte künftig erheblich vereinfacht werden, wenn physikalische Sachverhalte nicht nur erklärt und aufgemalt, sondern mit aussagekräftigen Bewegtbildern der physikalischen Prozesse verdeutlicht werden könnten. Die Entwicklung der Simulation in der Luftfahrtsparte von Liebherr zeigt einen Trend, der auch in anderen Branchen zu beobachten ist: Reale Tests lassen sich zunehmend durch Simulation reduzieren, was zu einer Verringerung von Aufwänden in der Entwicklung und verbesserten Produkten führt.
Der Autor Alexander Kunz ist Manager für Communicatios & PR bei Cadfem Germany.
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