21.02.2022 – Kategorie: Fertigung & Prototyping
Fabrikplanung: Wie sie virtuell gelingt
Nicht nur Automobilhersteller sind unter Druck, weltweit verteilte Fabriken ständig auf neue Produkte umstellen zu müssen. Wie kommen die Fabrikplaner damit zurecht?
Ein Hersteller mit einer Fabrik in Osteuropa stellte auf ein neues Modell um. Allerdings wurde die gesamte Fabrikplanung auf Basis falscher Daten durchgeführt. Acht Wochen vor der Umsetzung erkannten die Verantwortlichen, dass nur drei Zentimeter fehlen, damit eine wichtige Maschine ins Layout passt.
Fabrikplanung: Hohe Kosten gekonnt vermeiden
Die Folgekosten waren immens. Solche Vorfälle sind alles andere als ein Einzelfall, wie Finn Boysen, Chief Revenue Officer (CRO) bei Navvis, einem Spezialisten für die Erfassung, Weiterverarbeitung und Bereitstellung von hochgenauen Daten, berichtet. Selbst in innovativen und großen Unternehmen sind sie demnach aufgrund der aktuellen Komplexität Alltag.
Die Automobilindustrie befindet sich in der größten Transformation in ihrer über 100-jährigen Geschichte. Durch die veränderten Produktionsstrukturen genießt die Fabrikplanung bei den OEM entsprechend höchste Priorität – die Basis dafür bilden stets aktuelle Gebäude- und Anlagen-Daten.
Das ist das Ziel der 250 Navvis-Mitarbeiter, die ein Portfolio an Möglichkeiten bereitstellen, um kundenspezifisch digitale Zwillinge ganzer Fertigungsanlagen zu erstellen und betreiben zu können. Anwender der Technologie kommen neben der Automobilbranche insbesondere aus der Konsumgüter-, der Elektronik- und der Prozessindustrie.
Corona erschwert die Vermessung
Egal welche Branche, die Aufgabenstellung lautet meist: Eine neue Produktionslinie in eine bereits existierenden Fabrik hineinplanen. Leider ist aber oft nicht bis ins Detail bekannt, was sich bereits in der Fabrik befindet: Wo stehen Maschinen und Säulen und wo liegen Hindernisse wie Rohre im Weg? Denn im Zuge von kontinuierlicher Verbesserung und neuer Produkte wird permanent umgebaut und -gestellt, die Änderungen werden aber nicht immer in die Systeme eingepflegt.
Anders als in „normalen“ Zeiten hat Corona zudem zur Folge, dass die Planer Werke in Ungarn, China oder sonst auf der Welt nicht besuchen können, um Vermessungen vor Ort durchzuführen. Diese Problematik verschärft die aktuell anspruchsvolle Aufgabe der Fabrikplaner: Neue Produkte sollen schnell auf den Markt kommen – bei gleichzeitig steigender Komplexität und sinkenden Kosten.
Stets konsistente Daten
Um dabei böse Überraschungen zu vermeiden, müssen die Daten zur Planung aktuell und in verständlicher Form zur Verfügung stehen. Mit früheren Technologien hätte man wahrscheinlich ein Jahr daran gearbeitet, dies sicherzustellen. Jedoch wären hohe Kosten angefallen und die Daten wären nach der langen Erstellungszeit vermutlich bereits wieder hinfällig gewesen.
Eines der technischen Patente für das Erfassen der Daten basiert auf „SLAM“ (Simultaneous Localization and Mapping). Ein Algorithmus, der auch beim autonomen Fahren im Einsatz ist. Das Unternehmen hat diese Grundlagen-Technologie weiterentwickelt, um die benötigte Datenqualität liefern zu können.
Die aktuelle Technologie „Mobile Mapping“ ist beispielsweise bei der Digitalisierung von Produktionshallen und Gebäuden eines süddeutschen Automobilherstellers im Einsatz, um die vom Indoor-Mapping-System Navvis M6 generierten Punktwolkendaten in die bestehenden Planungssysteme zu integrieren. Damit ist die Vision verbunden, Produktionsprozesse komplett am Computer abzubilden, zu optimieren und zu simulieren.
Spezielle Software verarbeitet die Daten und stellt sie den Produktions-Verantwortlichen zur Verfügung, die nun mit jedem Standard-Webbrowser auf Computer, Tablet oder Smartphone durch die virtuellen Produktionshallen navigieren können. Sie können sich „umsehen“ und Produktionslinien oder Maschinen heranzoomen und näher untersuchen; wichtige Details werden als Points of Interest hervorgehoben.
Die Fabrikplaner können auf dieser Basis mit deutlich weniger Aufwand standortunabhängig planen, als dies bei klassischer Arbeitsweise der Fall wäre. Messungen in den entfernten Produktionshallen können sie heute vom Büro oder sogar vom Home-Office aus durchführen.
Projektablauf bei der Fabrikplanung: Wer erfasst die Daten?
Bei der Datenerfassung lässt Navvis die Wahl: Anwender können diese entweder selbst durchführen oder den Dienstleister damit beauftragen. Dazu haben die Münchner ein Netzwerk von weltweiten Partnern aufgebaut, die Daten sammeln können. Diese werden in einem Digital Twin zusammenführt, der anschließend als Komplettlösung zur Verfügung steht.
„Die Dauer solch eines Projekts hängt im Wesentlichen davon ab, um wie viele Fabriken in welcher Größe es sich handelt. Pro Tag lassen sich rund 10.000 bis 20.000 Quadratmeter erfassen. Etwa eine Woche später sind die Daten bereit“, erläutert Finn Boysen. „Wir betrachten die Dienstleistung als Ergänzung zu unserer Technologie.“
Für einen einmaligen Umbau und zum Einstieg ins Thema kann dies ein gangbarer Weg sein. Will der Anwender die Scans selbst durchführen, muss er über eine gewisse Kompetenz und Erfahrung im Thema verfügen. Zudem muss er dann die Navvis-Hardware kaufen. Dies kann beispielsweise angeraten sein, wenn der erste digitale Zwilling steht und dieser up-to-date bleiben soll. Schließlich gibt es Bereiche, in denen sich jede Woche etwas ändert – und das muss nicht mal ein Umbau sein. Dann ist ein vorhandener, von einem Mitarbeiter bedienbarer Laser-Scanner Gold wert, denn die Anwendungsfälle des Systems sind über die Fabrikplanung hinaus vielfältig.
Fokus auf Fabrikplanung – mit Potenzial darüber hinaus
Von der Dokumentation bei Um- oder Neubauten bis hin zur Unterstützung bei der Wartung oder virtuelle Werksführungen: „Bei großen Kunden sehen wir schon mal 20 oder 30 verschiedene Anwendungen. Denn wenn Daten erst mal verfügbar sind, regt das Phantasie an, und diese kann dann bis zum Training der Azubis oder der Logistikplanung reichen“, erklärt Finn Boysen. „Im Vordergrund stehen aber die ‚Global Operations‘ – die weltweite Arbeit mit den Fabriken. Dank unserer Technologie können Nutzer diese virtuell einsehen und mit den Leuten vor Ort über diese Daten kommunizieren.“
Daten in der Cloud genutzt
Als Beispiel spielt die Lösung Navvis Digital Factory eine wichtige Rolle bei einer neuen Industrial Cloud eines deutschen Automobilherstellers. Mit ihr sollen Produktion, Logistik und Supply Chain Management ins digitale Zeitalter geführt werden. Die Industrial Cloud besteht aus einer offenen Plattform, einer Community und einem zukünftigen Marktplatz für cloudbasierte Lösungen. In der Community tummeln sich beispielweise Teilelieferanten, Technologieanbieter, Systemintegratoren und unabhängige Softwareanbieter, die gemeinsam neue Dienste und Lösungen anbieten sowie nutzen wollen, um eine Vielzahl von Anwendungsfällen und Geschäftsmöglichkeiten in der Fertigung und Logistik abzudecken.
Dies zeigt auch, wie Nutzer und deren Partner immens vom Einsatz der Scan-Technologie profitieren können. Die Vorteile reichen von vereinheitlichten Abläufen über einen verstärkten Austausch von Best Practices bis hin zu einer verringerten Notwendigkeit von ausgedehnten Reisen.
Der Autor Theo Drechsel ist freier Fachjournalist in München.
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